Francesca Weil / André Postert / Alfons Kenkmann (Hgg.): Kindheiten im Zweiten Weltkrieg, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2018, 567 S., ISBN 978-3-95462-976-3, EUR 40,00
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Als im Frühjahr 2018 die Ausstellung "Kinder im KZ" in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Bergen-Belsen eröffnet wurde, erklärte die Kuratorin in einem Interview, viele Zeitzeugen hätten zurückhaltend auf die Anfrage der Ausstellungsmacher reagiert. "Wir waren doch nur Kinder", so sei die typische Reaktion gewesen: Zweifel daran, dass die Erfahrungen von Kindern für die Nachwelt von Interesse sein könnten. Diese Reaktion macht nicht nur traurig; sie überrascht auch, vor allem angesichts der großen Konjunktur, die Erzählungen über, Inszenierungen von und Forschungen zu "Kriegskindheiten" seit einigen Jahren erleben.
Wie komplex das Thema ist, welche methodischen, theoretischen und nicht selten auch ethischen Probleme sich aus seiner Bearbeitung ergeben, aber auch welche spannenden Erkenntnisse, wird aus der inspirierenden Einleitung des Bandes "Kindheiten im Zweiten Weltkrieg" mehr als deutlich. Die Autoren Francesca Weil und André Postert vom Hannah-Arendt-Institut in Dresden sowie Alfons Kenkmann von der Universität Leipzig beginnen mit einem Hinweis auf die öffentliche Debatte über die so genannten "Kriegskindergeneration", bei der es um individuelle Erinnerungen ebenso wie um kollektive Traumata geht. Weil, Postert und Kenkmann setzen gegen eine vielleicht nachvollziehbare, aber aus wissenschaftlicher Perspektive problematische Vereinfachung von Begriffen wie "Generation" die Forderung nach einem differenzierten Blick. Eine gemeinsame Betrachtung von Kindern verschiedener Bevölkerungsgruppen nicht nur in Deutschland, sondern ganz Europa, eine diffuse Vereinheitlichung sehr unterschiedlicher Schicksale und Handlungsräume und letztlich eine Gleichsetzung von Tätern und Opfern sei hochproblematisch.
Daraus ergibt sich die Forderung zu "konkretisieren, welche Kindheit und Kinder tatsächlich gemeint sind" (13) und konsequent die Verwendung der Pluralform "Kindheiten" im Buchtitel. Die Herausgeber schlagen einige Strategien und Wege vor, die Vereinheitlichung und Vereinfachung der "Kriegskindheiten" zu vermeiden und stattdessen nach Differenzierungen zu fragen. Entscheidend ist der transnationale Blickwinkel, der nicht nur vergleichende und oft kontrastive Perspektiven ermöglicht und damit an das vielzitierte Buch von Nicholas Stargardt anknüpft. [1] Das Nachverfolgen kindlicher Reise- und oft Lebenswege zwischen verschiedenen Nationen, ermöglicht oder erzwungen durch Vertreibung, Exil oder Evakuierung, brachte für viele Kinder entscheidende Identitätswechsel und entsprechende Konflikte - und schließt an die so wichtigen Arbeiten von Tara Zahra an. [2] Die Autoren werfen auch die wichtige Frage auf, ob sich Verbindungslinien über nationale Grenzen hinaus ziehen ließen, die gemeinsame Erfahrungsmuster erkennbar machen. Von zentraler Bedeutung ist schließlich die Betrachtung von Kindheit als emotional und politisch höchst aufgeladene "Projektionsfläche" (19) und die mediale Nutzung des Erschütterungspotentials, welches das Leiden von Kindern mit sich bringt.
Die Herausgeber beenden ihre Einleitung mit der Bemerkung, es könne "keine sinnstiftende Meistererzählung über die Kriegskinder geben" (22). Der in dieser Feststellung enthaltenen Skepsis gegenüber einheitlichen Erzählungen ist grundsätzlich zuzustimmen: Sie problematisiert zu Recht sowohl die Vorstellung, alle Kinder einer Jahrgangskohorte hätten ähnliche Erfahrungen gemacht, als auch das letztlich dahinterstehende Kindheitskonzept, das gern mit Ideen (um nicht zu sagen Klischees) wie kindlicher Unschuld und Hilflosigkeit hantiert.
Keine Meistererzählung also, darin ist den Herausgebern zu folgen. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Darstellung der Kriegskindheiten nicht etwas mehr Struktur verdient hätte. Diese hätte sich nach geografischen Zuordnungen, methodischen Fragen, chronologischen Ordnungen oder Akteursgruppen (und vermutlich noch weiteren Ordnungsprinzipien) richten können. Die Entscheidung der Herausgeber aber, die immerhin 31 Aufsätze des Bandes nicht in Gruppen zu strukturieren und sie einfach nur alphabetisch nach den Namen der Autoren aufzureihen, irritiert. Nachdem die Herausgeber im Vorwort selbst fordern, "den Krieg nicht etwa als Sammelsurium von Nationalgeschichten zu begreifen" (15), liegt hier letztlich leider kaum etwas anderes vor als genau dies: ein Sammelsurium. Dieses besteht aus vielen für sich genommen hochinteressanten Aufsätzen, die eine große Vielfalt an Kindheitsperspektiven abdecken: Es geht um das Erzählen und die Verarbeitung von Erinnerungen (individuell wie kollektiv und medial), um die Erfahrung von Evakuierung und Emigration, um Verfolgung, Mord und Lagergewalt und um staatlich gelenkte Kinder- und Jugendorganisationen. Die Texte behandeln beispielsweise bisher marginalisierte Themen wie die Organisation der sogenannten Hlinka-Jugend im Slowakischen Staat (Michala Lônčíková), problematisieren methodologische Probleme und diskutieren theoretische Fragen zur Erinnerungsforschung (Wiebke Hiemesch, Olga Radchenko), analysieren neuere mediale Diskurse wie den um die so genannten "Wolfskinder" oder filmische Verarbeitungen (Christopher Spatz, Markus Köster, Ute Wölfel, Michael Brodski), untersuchen die Selbstwahrnehmungen von Kindern, die nicht zu den im von den Nationalsozialisten beherrschten Europa verfolgten Gruppen zählten (Beate Müller, Caroline Mezger, Lisbeth Matzer) und fragen immer wieder nach Handlungsspielräumen und Gestaltungsmöglichkeiten von Kindern.
Es ist schade, dass die Herausgeber sich damit begnügen, "eine Grundlage zu schaffen, um die verschiedenen Kindheiten des Zweiten Weltkrieges in gegenseitige Bezüge zu setzen" (22), selbst aber keinen ernsthaften Versuch in diese Richtung wagen. Der Band betritt ja keineswegs vollkommenes Neuland; einige der hier vertretenen Autoren haben bereits Schriften zu diesem Themenbereich vorgelegt, und auch darüber hinaus gibt es inzwischen eine recht ansehnliche empirische Forschungsleistung. Ebenso gibt es umfassende theoretische Debatten (einige davon werden in der Einleitung angesprochen) darüber, ob und wie "Kindheit" oder aber "Kindheiten" konzeptualisiert werden können: die abstrakten Auseinandersetzungen beispielsweise zwischen Chris Jenks und Jens Qvortrup, aber auch die konzeptionellen Vorschläge von Alan Prout hätten hier an einem konkreten Beispiel mit reichhaltiger empirischer Forschung angewandt und überprüft werden können. [3] Auch die umfassenden Diskussionen zu Ansätzen, mit denen Kinder im Krieg erforscht werden können, bietet hier zahllose Anknüpfungspunkte. [4] Während der vorliegende Band aber empirisch die Forschung fraglos sehr bereichert und aus dieser Perspektive zweifellos lesenswert ist, fällt er konzeptionell leider hinter die Arbeit von Nicholas Stargardt - der sich zwar mit theoretischen Überlegungen zurückhält, aber durch die Struktur seiner Erzählung wichtige Bezüge zwischen den von ihm beschriebenen Kindheiten schafft - zurück.
Anmerkungen:
[1] Nicholas Stargardt: Witnesses of war. Children's lives under the Nazis, New York 2005.
[2] Tara Zahra: The lost children. Reconstructing Europe's families after World War II, Cambridge, MA 2011.
[3] So beispielsweise Chris Jenks: "Many childhoods?", in: Childhood 11 (2004), 5-8; Jens Qvortrup: "Cooperation and controversy in childhood studies: some dissenting notes", in: Kindheiten. Gesellschaften, Interdisziplinäre Zugänge zur Kindheitsforschung, hg. von Rita Braches-Chyrek / Charlotte Röhner / Heinz Sünker, Leverkusen 2012, 45-58; Alan Prout: The Future of Childhood. Towards the interdisciplinary study of children, London 2004.
[4] Um nur einen Titel von vielen zu nennen: Lisa A. Kirschenbaum: The Meaning of Resilience: Soviet Children in World War II, in: Journal of Interdisciplinary History 47 (2017), Nr. 4, 521-535.
Martina Winkler