Rezension über:

Norbert Furrer: Schriftkunde und Textedition. Anleitung zum Umgang mit frühneuzeitlichen Manuskripten am Beispiel Berns, Zürich: Chronos Verlag 2016, 228 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-0340-1323-9, EUR 43,00
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Rezension von:
Ellen Bošnjak
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Georg Vogeler
Empfohlene Zitierweise:
Ellen Bošnjak: Rezension von: Norbert Furrer: Schriftkunde und Textedition. Anleitung zum Umgang mit frühneuzeitlichen Manuskripten am Beispiel Berns, Zürich: Chronos Verlag 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/09/30778.html


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Norbert Furrer: Schriftkunde und Textedition

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Der Autor möchte die Publikation als Übungsbuch und Arbeitsinstrument für Historiker, die sich mit Berner Originalquellen beschäftigen, und als Ergänzung zu Hans Schmockers zeitlich etwas weiter gefasstes Lesepraxisheft [1] verstanden wissen (7). Erklärtes Ziel sind die Vermittlung der "Forschungstechniken: die Kenntnis der Werkzeuge des Historikers, das Wissen um den Zugang zu ihnen und die Fähigkeit, sie zu handhaben". (8) Für Interessenten an Schriftgeschichte oder den Einstieg in die Paläographie Berns verweist das Vorwort auf einschlägige Publikationen wie einen neueren Nachdruck von Sturms Einführung in die Schriftkunde [2] und Schreibmeisterbücher.

Das Werk ist unterteilt in: Hilfsmittel und Grundlagen, Transkriptionen sowie eine Materialsammlung. Der erste Teil reproduziert einige Übersichten aus anderen Werken: Alphabete und römische Zahlzeichen aus Hutzli / Rubi und Schmocker / Moser-Léchot, Kürzungen aus Dülfer / Korn sowie chronologische Hilfestellungen aus dem Grotefend. [3] Darüber hinaus finden sich Angaben zu Maßen und Gewichten, ein Glossar, eine Übersicht von Titulaturen sowie die Transkriptionsprinzipien für den folgenden II. Hauptteil. Diese weichen von jenen des zugrunde liegenden Lesepraxisheftes ab. Die Alphabettafeln am Beginn des ersten Teils sind mit "Deutsche Buchstaben" überschrieben. Sie bilden Buchstaben aus gotischer Kursive, Bastarda, Fraktur und Kurrentschrift ab. "Deutsch" ist hier nicht nur unscharf, da es sich bei den abgebildeten um verschiedene Schriftarten handelt. Es ist auch ein problematischer Begriff, sollte nur die sogenannte deutsche Kurrentschrift gemeint sein. [4]

Die erste Tafel enthält Buchstabenformen in umgekehrt chronologischer Reihenfolge. Die Abbildung ist Schmocker / Moser-Léchot entnommen, die ihre Beispiele aus didaktischen Gründen vom 20. Jahrhundert ausgehend bis zurück ins 14. Jahrhundert angeordnet haben. Dies erklärt auch, warum die Schrifttafeln Buchstabenformen enthalten, die in dem gewählten Zeitrahmen der vorliegenden Publikation nicht vorkommen. [5]

Im zweiten, dem Transkriptionsteil, sind Kontextangaben und Literaturhinweise dem jeweiligen Faksimile vorangestellt. Auf der folgenden Doppelseite stehen sich Faksimile und Transkriptionstext mit Kommentaren in den Fußnoten sowie der Quellenangabe gegenüber. Der Anmerkungsapparat ist teils von erheblichem Umfang. Auf Angaben zur Schrift oder zu Schreibereigenheiten wurde verzichtet.

Die ausgewählten 16 Stücke stammen aus verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und weisen verschiedene Schriftniveaus und Schriftarten auf. Chronologisch sind sie möglichst gleichmäßig über den bearbeiteten Zeitraum von der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verteilt (10). Bis auf zwei Stücke aus der Burgerbibliothek Bern beziehungsweise den Archives cantonales vaudoises entstammen sie dem Staatsarchiv Bern.

Die Nachvollziehbarkeit der sorgfältigen Transkriptionen leidet weniger unter gelegentlichen Flüchtigkeitsfehlern (53 hüttigen statt hüttigem, thut, statt thuont; 93 Almendignen statt Almendingen) als vielmehr unter inkonsequenter Umsetzung der Transkriptionsregeln und zu detailreichen Vorgaben. Laut Transkriptionsprinzipien stehen eckige Klammern bei Auflösung einer Abkürzung, bei gängigen Kürzungen wird ohne Klammern aufgelöst oder auch die Kürzung stehen gelassen und im Glossar erklärt (45). In eckige Klammern gesetzt werden jedoch offenbar auch Ergänzungen ohne im Ursprungstext befindliche Kürzungszeichen (61, 89). Hier verwundert die Korrektur von "das" zu "dass" (61) angesichts der uneinheitlichen Orthographie und Grammatik der Vorlagen.

Auch Regeln für Groß- und Kleinschreibung sind zu detailreich und führen zu unübersichtlicher Umsetzung. Es wird beispielsweise das Wort "win" innerhalb eines Textes einmal groß und einmal klein transkribiert, obwohl sich die Vorlage nur wenig unterscheidet (56/57). Für das Getrennt- oder Zusammenschreiben von Worten trifft dasselbe zu. Im Text von 1711 werden die Wortbestandteile überwiegend mit Zwischenraum geschrieben, in der Transkription steht "einkommenen", "an Sehen", "umbkösten", "zu fügen" und so fort (88/89). Dazu findet sich keine Vorgabe in den Regularien. Ebenso fehlen Vorgaben zu übergeschriebenen Buchstaben, sie werden in den Transkriptionen ignoriert (beispielsweise 53, Zeile 5: thut, statt thuot). Dagegen werden Umlautzeichen über y mittranskribiert (53). [6]

Die Schrift deutsch verfasster Texte wird im Vorspann undifferenziert deutsche Schrift (9, 47) genannt. Humanistische Schrift für lateinischsprachige Worte oder Wortstämme wird innerhalb eines deutschsprachigen Textes kursiv gesetzt, ist jedoch der gesamte Text überwiegend lateinisch- oder französischsprachig, wird die Schriftart nicht gekennzeichnet oder angegeben (84/85, 116/117).

Die Graustufen-Abbildungen sind ganz überwiegend von guter Qualität, nur die Beispiele von 1720 August 1 (92) und 1791 Januar - August (110) befinden sich an der Grenze der Lesbarkeit. Gewinnbringend für prosopographische und kulturgeschichtliche Untersuchungen sind die ausführlichen Erläuterungen bezüglich Personen, vorkommenden Nominalen sowie deren Kaufkraft in den beigegebenen Kommentaren.

Der III. Teil versammelt Übersichten zu Nominalen, Kurswerten, Kalendarien, geographischen und hierarchischen Angaben, teils mit einschlägigen Quellentexten.

Der Buchtitel scheint nicht ganz glücklich gewählt. Die Publikation geht auf Textedition und Schriftkunde nicht ein, die Schriftarten werden nicht benannt. Von einer "Anleitung" erwartet man jedoch eine detailliertere Beschreibung als den Hinweis, dass die Transkriptionen mit "Anmerkungen [zu versehen sind], die Erklärungen enthalten zur Sprache, in der sie geschrieben sind, und zu den Dingen, von denen sie berichten". (9) Zu nennen wären Personen- und Ortsnamenidentifikation, ein Kurzregest, Auflösung von Datierungen, Umrechnung von Nominalen - kurz: von dem, was der Autor seinen Transkriptionen beigibt, jedoch an keiner Stelle erläutert.

Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um ein wertvolles Hilfsmittel bei der Bearbeitung von handschriftlichen Berner Texten. Auch zur autodidaktischen Aneignung von Lesekenntnissen kann es Anwendung finden. Es liefert Angaben zu Zahlungsmitteln und deren Kaufkraft und versammelt wichtige Grundlagen und Werkzeuge für Nutzer mit entsprechenden Vorkenntnissen ohne das zusätzliche Hilfsmittel wie Grotefend oder das Lesepraxisheft [7] obsolet wären. Über ein reines Tafelwerk wie Ziegler / Hochuli für St. Gallen geht es mit seiner fundierten Stoffsammlung deutlich hinaus, ohne das stimmige Gleichgewicht von Informationen und Erläuterungen von Publikationen mit vergleichbarer Zielgruppe zu erreichen. [8]


Anmerkungen:

[1] Hans Schmocker / Daniel V. Moser-Léchot: Alte Schriften lesen: Hilfen zum Lesen, Schriftproben, Verschiedene Ausprägungen, Alte Masse und Gewichte. Schulpraxis 4/1988. Neuauflage Januar 2010.

[2] Heribert Sturm: Unsere Schrift: Eine Einführung in die Schriftkunde. Neustadt an der Aisch 2005 (Nachdruck der 2. ergänzten Auflage von 1955).

[3] Jakob Hutzli: Alte Berner Schreibkunst. Das Gülden ABC. Herausgegeben von Christian Rubi. 2. Auflage Bern 1988. Kurt Dülfer / Hanns-Enno Korn: Gebräuchliche Abkürzungen des 16. - 20. Jahrhunderts. Nachdruck der 9. Auflage. Marburg 2006. Hermann Grotefend: Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. 14. Auflage Hannover 2007.

[4] Der Autor übernimmt die Angaben aus dem Historischen Lexikon der Schweiz, herausgegeben von der Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz. Basel 2002-2014, Band XI, S. 205. Die Vorlage Schmocker / Moser-Léchot schreibt auf S. 4 präziser von der "sogenannten deutschen Kurrentschrift", die "zur Hauptsache im deutschen Sprachgebiet" geschrieben worden sei. Ebenfalls differenziert schreibt Hellmut Gutzwiller: Die Entwicklung der Schrift vom 12. bis ins 19. Jahrhundert, Solothurn 1981 auf S. 7 die "im deutschen Sprachraum [...] gebrauchte Kurrentschrift bildet eine Abart der gotischen Schrift und wird deshalb im französischen Sprachraum mit vollem Recht als écriture gothiques bezeichnet". Kurrentschrift wird eben nicht nur für Texte in deutscher Sprache genutzt. Vergleiche beispielsweise: https://sok.riksarkivet.se/dokument/oxenstierna/01387/1387_1.jpg (23.7.2018) in schwedischer Sprache oder http://www.monasterium.net/mom/CZ-UKP/AUKP/sign_II%7C118/charter (23.7.2018) in tschechischer Sprache. Friedrich Beck / Friedrich Lorenz Beck: Die Lateinische Schrift. Köln Weimar Wien 2007, S. 61 schlagen daher den umfassenderen Begriff neugotisch-deutsche Schrift vor und man möchte zu "neugotisch" tendieren.

[5] g mit Schaftspaltung - 20. Jahrhundert rundes s der Bastarda - 15. Jahrhundert.

[6] Schmocker / Moser-Léchot, S. 27 reproduziert übergeschriebene Buchstaben und lässt die Umlautzeichen bei y unberücksichtigt, S. 25. Ebenso setzen weitere Transkriptionswerke zu Schweizer Schriftstücken regelmäßig y ohne Umlautzeichen, geben übergeschriebene Vokale wieder und verwenden eine vereinfachte Groß- und Kleinschreiberegelung, da sehr oft nicht zu unterscheiden ist, ob es sich um eine Majuskel oder Minuskel handelt. Vergleiche Ernst Ziegler / Jost Hochuli: Hefte zur Paläographie des 13. bis 20. Jahrhunderts aus dem Stadtarchiv (Vadiana) St. Gallen. Rorschach 1985 - 1989, Heft IV: 16. Jahrhundert, S. 10.

[7] Schmocker / Moser-Léchot bietet gelegentlich Hinweise zur Schriftart und zu Schreibereigenheiten. Vergleiche die Beispiele 27, S. 26 und 34, S. 30 und gibt Bearbeitungshinweise.

[8] Vergleiche etwa für einen ebenfalls abgegrenzten Schweizer Bereich den Abriss zur Schriftentwicklung, die vereinfachten Transkriptionsgrundlagen und die Einordnung der Schrift und der Schreibereigenheiten in Gutzwiller S. 11 ff. sowie bei den einzelnen Transkriptionen.

Ellen Bošnjak