Rezension über:

Mary Dzon: The Quest for the Christ Child in the Later Middle Ages (= The Middle Ages Series), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2017, XII + 408 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-0-8122-4884-5, USD 65,00
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Rezension von:
Michele Bacci
Département de philosophie, Université de Fribourg
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Michele Bacci: Rezension von: Mary Dzon: The Quest for the Christ Child in the Later Middle Ages, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 10 [15.10.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/10/30254.html


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Mary Dzon: The Quest for the Christ Child in the Later Middle Ages

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Diesem wichtigen Buch liegt die folgende Frage zugrunde: inwieweit haben sich die Gläubigen des Mittelalters mit den spärlichen, von den Evangelien vermittelten Informationen zur Kindheit Jesu zufriedengegeben und durch welche literarischen und bildlichen Strategien haben sie versucht, die Lakonik der Heiligen Schriften zu überwinden? In welchem Sinn konnten sich die Christen erlauben, die unbekannten, geheimnisvollen Ereignisse aus den ersten Lebensjahren des menschgewordenen Erlösers zu imaginieren?

Im Gegensatz zu anderen Autoren, die den Akzent hauptsächlich auf die Wirkung der eucharistischen Devotion und der mystischen (weiblichen) Andachtsformen auf die bildliche Gestaltung des Christuskindes gelegt haben, zielt die Autorin insbesondere darauf ab, die Rolle der apokryphen Legenden in der mittelalterlichen Wahrnehmung der Kindheit Jesu zu untersuchen. Es wird schon in der historiografischen Einleitung deutlich gemacht, dass die sehr unterschiedlichen, von den Apokrypha vermittelten Darstellungen Jesu im Laufe des Mittelalters trotz ihrer häufig wechselseitigen Widersprüchlichkeit oftmals ausgenutzt und weiterentwickelt wurden: Unterstrichen wird nicht nur die durch die Existenz Christi als Kind manifestierte Menschlichkeit, oftmals weist man auch auf die außerordentlichen, übernatürlichen Umstände hin, unter denen der Sohn Gottes als Mensch in der Welt geboren wurde.

Eine wohlüberlegte Auswahl von Text- und Bildquellen dient dem Zweck, die vielfältigen Interpretationsformen des Christuskindes zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert zu untersuchen. Das zweite Kapitel betrifft das Bild Jesu in zwei Traktaten des Zisterziensermönches und Jüngers Bernhards von Clairvaux, Aelredus von Rielvaux, in denen die verborgene Jugend Christi als Metapher für das monastische Leben erklärt und als ein berechtigter Gegenstand der Andachtsmeditation verstanden wird. Später setzen sich Franziskus von Assisi und seine Nachfolger für die Förderung der Verehrung des Christuskindes durch Kleriker und Laien ein. Unterstrichen wird die Episode der 1223 von Franziskus selbst geschaffenen Krippe von Greccio, in der das Mysterium der Inkarnation durch eine materielle und performative Inszenierung des paradoxalen Gegensatzes zwischen dem göttlichen Zustand des Neugeborenen und der absoluten Armut der von Gott als Geburtsort ausgewählten Bethlehemer Grotte zur Schau gestellt wurde. Der Kontrast der beiden Existenzformen wurde in der frühen franziskanischen Literatur - insbesondere bei Bonaventura und in den Meditationes vitae Christi - weiterentwickelt, wo das Benehmen des Kindes teils als das eines puer, teils als das eines senex beschrieben wird.

Dem mehr oder weniger unmittelbaren Hinweis auf die Apokrypha bei den Franziskanern und in der weiteren mittelalterlichen Kultur steht die Auffassung des dominikanischen Theologen Thomas von Aquin entgegen, dem zufolge das Schweigen der Heiligen Schriften über die Jugend Christi als Beweis dafür verstanden werden sollte, dass sein Leben bis zum Beginn seiner vita publica vollständig gewöhnlich ohne jede Wundertätigkeit gewesen sei. Das Argument war nicht nur in einer langen Denktradition verwurzelt, die sich zeitlich bis hin zu Augustinus zurückverfolgen lässt, sondern es gemahnte an Mentalitätskonzepte des Mittelalters, denen zufolge einige Geister in Kinderform erscheinen und Zauber wirken konnten. Die Autorin vermutet, dass genau diese Aspekte, die Beziehungen zu Bräuchen und Legenden des Volksglaubens aufweisen, dazu beigetragen haben, die Popularität der Apokrypha zu fördern und zu sichern.

Den Mittelpunkt der Argumentation von Dzon bildet das vierte Kapitel, das die Interpretation des Christuskindes im mystischen Erleben der heiligen Birgitta von Schweden behandelt. Der Akzent wird hier insbesondere auf die Vision der Geburt Christi im Jahr 1373 gelegt, welche in Buch VII, cap. 23, der Revelationes beschrieben wird: Maria habe demnach Birgitta ermöglicht, zur Augenzeugin des Ereignisses zu werden, damit manche in den Evangelien von Matthäus und Lukas ausgelassenen Einzelheiten ihr und der ganzen christlichen Gemeinschaft vermittelt werden könnten. Solche Details waren wegen ihrer theologischen Implikationen nicht unbedeutend: das Kind sei nämlich plötzlich auf dem Grund der Geburtsgrotte erschienen und man habe auf seinem Körper keine Unreinheit oder Verschmutzung sehen können, sodass er offensichtlich nicht gewaschen werden musste. Im Gegensatz zu den Apokrypha, die auf die Anwesenheit zweier Ammen verweisen, und zur ikonografischen Tradition, in der sich die Waschung des Neugeborenen in der Geburtsszene fast regelmäßig dargestellt findet, offenbart die Vision sehr deutlich, dass der Sohn Gottes nicht nach Art der gewöhnlichen Menschen zur Welt gekommen war: von Geburt an absolut rein, wurde er von Maria unmittelbar in ihren Schleier und ihren Mantel gehüllt.

Der detaillierten Analyse der Textstelle folgt eine sorgfältige Untersuchung der literarischen Inspirationsmodelle der Birgitta, die von der Autorin hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, in der franziskanischen Tradition verortet werden. Gleichzeitig wird die Besonderheit der Vision betont, ihre Bedeutung in Bezug auf andere, die Kindheit Jesu betreffenden Stellen in den Revelationes, und deren Einfluss auf andere Mystikerinnen und, im Allgemeinen, auf die religiöse Sensibilität des späten Mittelalters.

Ein wichtiger Aspekt des Buches ist die selektive Verwendung ikonografischer Zeugnisse und deren Interpretation zur Untermauerung der auf der Textanalyse basierenden Hypothesen. Letztere geben mehrmals Anlass zu weiteren Deutungen aus der Perspektive der Kunstgeschichte, die in der von der Autorin benutzten Literatur wohl dargestellt ist, auch wenn die Abwesenheit einiger wichtiger deutschsprachiger Studien auffällt. [1] Der Zusammenhang zwischen Bildern und Texten wird im Buch tendenziell als ein unidirektionales Phänomen verstanden, und nur sporadisch wird die Möglichkeit erwogen, dass die Visionen - die nicht nur als literarische Konstrukte, sondern auch als emotionale Erlebnisse zu verstehen sind - aus einem wechselseitigen Dialog ikonografischer und schriftlicher Inspirationsquellen hervorgegangen sein könnten. In der detaillierten Besprechung der in den Revelationes betonten Rolle Mariens als Weberin der Tunika Christi wird auf spätere Darstellungen hingewiesen, in denen die Einkleidung des jungen Jesu durch die Jungfrau dargestellt wird, aber es wird nicht erwähnt, dass Birgitta wahrscheinlich mit der traditionellen, byzantinischen Ikonografie vertraut war, die ein Wollknäuel als Attribut der Jungfrau in der Szene der Verkündigung jahrhundertelang benutzt hatte.

Ein weiteres Element, das man in Erwägung ziehen sollte, ist der Zusammenhang mit der Materialität und den Erlebnisformen der Heiligen Orte. Es darf nicht unterschätzt werden, dass die Vision der Birgitta in der Geburtsgrotte in Bethlehem stattfand. Die Haltung und die Bewegungen Mariens in den engen Räumlichkeiten der Höhle entsprechen dem Andachtsbenehmen der Pilger, die sich zuerst vor dem die Geburt markierenden Loch in der östlichen Apsis ins Gebet versenkten, bevor sie sich nach rechts umwandten, um die Krippe zu verehren. Außerdem entsprach die durch die Vision geförderte Neudeutung der Geburt Christi der bildlichen Neuausstattung des Ortes durch die Franziskaner, die erst am Ende des 14. Jahrhunderts belegt ist. Das in der kleinen Apsis zur Schau gestellte Mosaik aus dem 12. Jahrhundert, in dem die Episode der Waschung dargestellt war, wurde nämlich mit einer Tafelmalerei bedeckt, in der Maria und Joseph vor einem auf dem Grund liegenden, Licht ausstrahlenden Christuskind kniend dargestellt wurden. Man sollte die Möglichkeit nicht vollständig ausschließen, dass diese erst im Jahr 1395 erwähnte Tafel bereits vorhanden war, als Birgitta 1373 die Grotte besuchte. [2] Wäre dies der Fall, dann hätte diese Darstellung die mystische Einbildungskraft der Heiligen stark prägen können. Wenn nicht, kann man davon ausgehen, dass die Franziskaner die Vision ausgenutzt haben, um die Verehrung der Pilger in eine neue Richtung zu lenken.


Anmerkungen:

[1] Insbesondere Hanns Peter Neuhauser: Zugänge zur Sakralkunst. Narratio und Institutio des mittelalterlichen Christ-Geburtsbildes, Köln 2001, 783-844; Anette Creutzburg: Die heilige Birgitta von Schweden. Bildliche Darstellungen und theologische Kontroversen im Vorfeld ihrer Kanonisation (1373-1391), Kiel 2011, 75-78; Fabian Wolf: Die Geburt Christi als Ereignisbild. Wechselbeziehungen zwischen Bildtradition und der Vision der heiligen Birgitta von Schweden, in: Das Bild als Ereignis. Zur Lesbarkeit spätmittelalterlicher Kunst mit Hans-Georg Gadamer, hgg. v. Dominic E. Delarue / Johann Schulz / Laura Sobez, Heidelberg 2012, 209-233; idem: Von der Geburt Christi zur Anbetung des Kindes. Die künstlerische Rezeption des Visionsberichtes der Birgitta von Schweden, in: Heilige Nacht. Die Weihnachtsgeschichte und ihre Bilderwelt, hg. v. Stefan Roller, München 2016, 43-66. Vor Kurzem wurde auch ein neues Buch zum Thema veröffentlicht: siehe Fabian Wolf: Die Weihnachtsvision der Birgitta von Schweden. Bildkunst und Imagination im Wechselspiel, München 2018.

[2] Siehe Michele Bacci: The Mystic Cave. A History of the Nativity Church in Bethlehem, Rom / Brünn 2017, 233-236.

Michele Bacci