Jörg van Norden: Geschichte ist Bewusstsein. Historie einer geschichtsdidaktischen Fundamentalkategorie (= Forum Historisches Lernen), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2018, 397 S., ISBN 978-3-7344-0672-0, EUR 35,90
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Alles Gescheite sei bereits einmal gedacht worden, man müsse nur versuchen, es noch einmal zu denken, heißt es in Wilhelm Meisters Wanderjahren. In diesem Geist steht die Studie zur konzeptuellen Historie von 'Geschichtsbewusstsein', die der Bielefelder Geschichtsdidaktiker Jörg van Norden vorgelegt hat.
Sein Ausgangspunkt ist ein gefühltes "Unbehagen" (10) der Geschichtsdidaktik an ihrem zentralsten, identitätsstiftendsten Begriff. Ist der angegraute Terminus noch nützlich in einer heterogenen Gesellschaft, die den großen gemeinsamen Erzählungen keine Bedeutung mehr beimisst? Ist er tatsächlich Fundamentalkategorie, wie zumeist behauptet wird, oder nicht doch eher Leerformel, weil beliebig form- und dehnbar? Die Geschichtsdidaktik empfiehlt bei solchen Verunsicherungen die Befragung der Vergangenheit an der Hand der historischen Methode, und so wirft der Autor den Begriff in den tiefen Brunnen der Ideengeschichte, um zu sehen, ob sich unter den angesammelten diskursiven Schlacken und Krusten nicht doch ein reiner Kern verbirgt, der für die ordnende Ausrichtung der Eisenfeilspäne fachdidaktischer Forschung und Normative taugen könnte. Hierzu exhumiert er didaktische Schlüsseltexte zum Geschichtsbewusstsein der letzten einhundert Jahre und vergleicht die Positionen der Diskursakteure synchron und diachron.
Das daraus entstandene Buch gliedert sich in sechs Hauptkapitel, die von zwei Einschüben aufgelockert und von einem Resümee abgeschlossen werden. Das erste Kapitel widmet sich den Theoretikern der Weimarer Republik, deren Zielsetzungen von Geschichtsbewusstsein in ein Spektrum eingeordnet werden, das chauvinistisch-kollektivistisch beginnt (Klagges, Wundt) und bei Denkern wie Kawerau und Sonntag endet, die Individuum und Kollektiv gleichberechtigt nebeneinanderstellen. Es schließt sich ein Kapitel über jene Didaktikergeneration von Anrich bis Wittram an, die sich sowohl vor als auch nach 1945 zum Geschichtsbewusstsein äußerte. Hier wird insofern Kontinuität festgestellt, als es weiterhin mehrheitlich am Kollektiv sowie an metaphysischen, mithin ahistorischen Bezugspunkten ausgerichtet bleibt. Auf der Suche nach den eigentlichen Wurzeln dieser Auffassung springt ein Einschub zurück zu Droysen und Dilthey. Diese werden als Ahnväter der geisteswissenschaftlichen Schule von Geschichtsbewusstsein und als frühe Vertreter der Auffassung identifiziert, dass Geschichte Bewusstsein sei. Die geisteswissenschaftliche Schule stellt der Autor im Folgekapitel über die Nachkriegszeit als ungebrochen hegemonial dar, wie auch weiterhin das Kollektiv den didaktischen Sinnhorizont formt. Einem psychologischen Einschub folgend wird der DDR-Diskurs unter die Lupe genommen, dem der Autor ein phasenweise hohes theoretisches Niveau und eine bemerkenswerte Produktivität attestiert. Anschließend wird die Jeismannsche Wende als Kulturkampf zwischen emanzipatorischer Didaktik und einer in Krisenzeiten vereinigten Phalanx der Mitte erzählt, bei dem sich eine formalistische Vorstellung von Geschichtsbewusstsein als Containerkonzept deshalb durchsetzte, weil sie die institutionelle Sicherung von Geschichte als Lehrfach an Schule und Universität versprach. Schließlich überblickt der Autor im letzten Kapitel den Diskurs vom Mauerfall bis zur Gegenwart, an dessen mangelnder begrifflicher Schärfe er leidet. Von einer Fundamentalkategorie 'Geschichtsbewusstsein' könne man angesichts der diffusen Verwendung eigentlich nicht sprechen, wird resümiert (342), was die gegenteilige Zuschreibung im Buch-Nebentitel, "Historie einer geschichtsdidaktischen Fundamentalkategorie", etwas widersprüchlich erscheinen lässt.
Der sehr gut lesbare Band breitet den Reichtum und die Schattierungen des Geschichtsbewusstseinsdiskurses im Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv, Objekt- und Subjekttheorie, Gnosis und Agnosis, Zeitlichem und Überzeitlichem aus. Dabei liefert er teils überraschende Erkenntnisse, etwa dass die Vorstellung, dass Geschichtsbewusstsein die Zeitebenen verknüpfe und in der Lebenswelt der Gegenwart verankert sei, bereits nach dem Ersten Weltkrieg als geschichtsdidaktischer Mainstream gelten konnte. Und der Gründungsmythos des Geschichtsbewusstseins-Paradigmas wird rasch als solcher enttarnt, insofern sich die essentiellen Gedanken und Ansätze Jeismanns bereits bei einigen seiner Vorgänger finden.
Van Nordens Zugriff ist bei dieser Studie streng analytisch und komparativ. Man sieht vor dem geistigen Auge die vielen Kategorien, Schemata und Häkchenlisten vorüberziehen, nach denen der Autor seine Untersuchungsobjekte mental sortiert und klassifiziert haben muss, wobei er zuweilen auch biographische Entwicklungsverläufe berücksichtigt. Dass er selbst Vertreter eines narrativistisch-konstruktivistischen, rationalistischen, auf kritische Selbstreflexion gebürsteten Verständnisses von Geschichte als Deutungsgeschäft ist, lässt manche seiner Werturteile nicht unberührt. Skepsis gegenüber Vorstellungen vom Unveränderlichen, der Zeit Enthobenen leuchtet durch den Band, wobei nicht immer ganz klar scheint, wo die ontologischen Grenzen zwischen metaphysischen Konzepten im engeren Sinn, vermuteten Gesetzmäßigkeiten, universell adressierbaren Schlüsselproblemen und mutmaßlichen anthropologischen Konstanten gezogen werden. Ebenso greift er das Unbewusste, Imaginative, Emotionale, Intuitive auf individueller und kollektiver Ebene nur mit spitzen Fingern an - hier wird der Titel zum Programm und die spukhaften Tiefen der Kognition an die Ränder der konzeptuellen Landkarten gedrückt. Der Exkurs zur Psychologie ist entsprechend schmal geraten und verzichtet auf die kritische Einbeziehung geschichts-, entwicklungs- oder vielleicht auch tiefenpsychologischer Perspektiven auf Geschichtsbewusstsein [1], freilich würde hier die Gefahr einer Überdehnung des Forschungsfeldes lauern.
Zustimmungsfähig ist der Ruf des Autors nach einer trennschärferen Terminologie. Er selbst schlägt eine sehr anschauliche Systematik vor, welche narratologische Anleihen bei Rüsens Erzähltypologie macht und hermeneutische beim späten Jeismann. Dabei identifiziert er Geschichtsbewusstsein reduktiv mit "Geschichtsbewusstheit" (als ein metakognitiv informiertes Wissen darüber, auf welche Weise man selbst aus Überlieferung Geschichte macht). Durch eine solche begriffliche Disziplinierung, wird argumentiert, könne man einer genuinen Fachsprache Geburtshilfe leisten und Selbstreflexion sowie Ideologiekritik auf die zentralen Blickachsen rücken (342). Das ist einleuchtend. Der naheliegende Einwand ist freilich, dass 'Geschichtsbewusstsein' hier begrifflich auf eine wünschenswerte normative Zielausprägung beschränkt und dabei schlankerhand all jenen abgesprochen wird, die zwar Geschichte bewusst zur Orientierung nutzen, dabei jedoch "ihre eigenen Konstruktionspläne nicht kennen" (318). Appliziert man auf diese dann ein Geschichts-Unbewusstsein, -Vorbewusstsein, -Fehlbewusstsein, weil sie ja den "richtigen Umgang mit Überlieferung" (318) noch nicht verinnerlicht haben? Haben sie nur ein Geschichtsbild? Was taugt ein universell angelegter Begriff, der letztlich wohl nur unter spezifischen Kulturbedingungen greift? Und entfernt er sich durch sein Korsett nicht noch weiter von der alltagssprachlichen Verwendung und verliert an Anschlussfähigkeit für andere Domänen, die reflexive Bewusstheit nur als eines von mehreren Bewusstseinsphänomenen verstehen?
Dass im Buch auf Visualisierungen verzichtet wurde, wird mehr als wettgemacht durch die strukturierenden Zwischenfazite, welche jedes Hauptkapitel zusammenfassen und dadurch Übersicht herstellen; allerdings hätte es sich ein gründlicheres Korrektorat verdient. Ansonsten fordert nichts an diesem Band Kritik heraus. Es handelt sich um eine bemerkenswert klarsichtige, akribisch ausgearbeitete und methodisch reflektierte Studie, die auch als Ideenfundgrube taugt. Da eine begriffsgeschichtliche Aufarbeitung in der Forschung bislang fehlte, ist die Lücke, die sie ausfüllen will, evident und darf auch als ganz erheblich verkleinert angesehen werden. Wer an der Diskursgeschichte der Disziplin interessiert ist, wird an diesem Buch fürderhin nicht vorbeikommen.
Anmerkung:
[1] Beispielhaft Carlos Kölbl/Jürgen Straub: Geschichtsbewusstsein als psychologischer Begriff, in: Journal für Psychologie 11 (2003), 75-102; Jörn Rüsen/Jürgen Straub (Hgg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein, Frankfurt a. M. 1998.
Heinrich Ammerer