Ludwik Hirszfeld: Geschichte eines Lebens. Autobiographie. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein (= Polen in Europa), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 434 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78138-3, EUR 39,90
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Ernst schauende Mitarbeiter mit gebeugten Köpfen stehen dezent im Halbkreis, im Vordergrund sind Reagenzgläser und anderes Laborzubehör zu erkennen. Im Zentrum der Fotografie sitzt der Professor höchstpersönlich und blättert mit kritischem Blick in einem Buch - ein inszeniertes Foto, das sicher nicht ohne Grund den Einband von Ludwik Hirszfelds Autobiografie "Geschichte eines Lebens" ziert. Es hat lange gedauert, bis die Erinnerungen eines der renommiertesten polnischen Mediziner ihren Weg zur deutschsprachigen Leserschaft gefunden haben: Bereits 1943 schloss Hirszfeld sein Manuskript nach geglückter Flucht aus dem Ghetto in Warschau ab, 1946 erschien die Erstausgabe. Sein Wunsch, möglichst schnell in Deutschland (als kriegstreibendem Unrechtsstaat und zugleich Ort seiner ersten wissenschaftlichen Gehversuche) rezipiert zu werden, wurde lange Jahrzehnte nicht erfüllt. Zwar gab es bereits kurz nach Kriegsende Übersetzungen, deren Publikation wurde allerdings aus verschiedenen Gründen nicht realisiert. [1] Erst 2014 erfolgten neue Impulse von deutscher wie polnischer Seite, die schließlich in die vorliegende Fassung mündeten.
Hirszfeld formuliert in seiner Darstellung verschiedene Motive für sein Schreiben. Den Ersten Weltkrieg verbringt der Mitbegründer der Seroanthropologie in Serbien, Mazedonien und auf Korfu, wo er Epidemien bekämpft. Noch gibt er sich gänzlich unpolitisch und will "vielmehr die Stimmung [vor Ort] wiedergeben" (51). Diverse Exkurse zu seiner Forschung, zu Kongressen und wissenschaftlichen Fragen seines Fachgebietes dokumentieren zugleich den fachlichen Schwerpunkt seiner Inhalte: Es geht ihm "um die Rolle der Wissenschaftler vor dem Hintergrund der die Menschheit plagenden Gefechte" (129). Angesichts der Zuspitzung dieser Konflikte ab 1939 kommt Hirszfeld nicht umhin, auch die Beteiligung der Wissenschaft am Genozid in den Blick zu nehmen; seine eigene Betroffenheit von der Rassepolitik der Nationalsozialisten führt letztlich zwangsläufig dazu, dass seine Lebensgeschichte nicht von der Politik zu trennen ist. Und der Autor bemerkt mehr und mehr den Chronik-Charakter seines Werkes und dessen Funktion als "Denkmal für jene, die allzu früh gegangen sind" (322).
Diese sich verändernden Akzentuierungen lassen sich an seiner Vita ablesen, die er in insgesamt 32 Kapiteln chronologisch schildert. Anekdotische, teils regelrecht heitere Passagen skizzieren sowohl sein akademisches Leben in Heidelberg (wo er 1910 gemeinsam mit Emil von Dungern die heute gültigen Bezeichnungen der Blutgruppen A, B, AB und 0 entwickelt) und Zürich als auch weitgehend die Jahre 1914 bis 1918. Wenn er die Kriegsgräuel samt der zunehmenden Verrohung anspricht, geschieht dies selten konkret anklagend, meist belässt er es bei getragen formulierten Reflexionen: "Die menschliche Seele besitzt viele Schichten. Die Liebe zum Nächsten, Achtung vor dem Leben und Ehre lagen in der dünnen Oberfläche. Darunter ballten und wälzten sich heiße Lava- und Feuerschichten, die sich durch die - ach, so dünne - kultivierte Schicht einen Ausgang suchten, um sich zu ergießen und die Welt zu überfluten und das über Jahrtausende hart erarbeitete Paradies in Schutt und Asche zu legen." (34) Darüber hinaus berichtet er anschaulich von diversen Erfolgen seines Wirkens gegen Epidemien (ein serbischer Mediziner schreibt Hirszfeld zu, "einer der großen, verdienstvollen Köpfe der serbischen Hygiene" (62) zu sein) und neigt zur Verklärung seiner Erlebnisse in der Gemeinschaft am abendlichen Lagerfeuer. 1918 ist er glücklich, sich am Wiederaufbau seines als Staat wieder entstandenen Vaterlandes wissenschaftlich in Gestalt von Institutsgründungen und Lehrtätigkeit zu beteiligen, eine Aufgabe, der er sich verpflichtet fühlt und mit bemerkenswertem Engagement und Selbstbewusstsein verschreibt.
Mit den Kapiteln "Der nahende Herbst" (168ff.) und "Vor dem Sturm" (175ff.) kippt die Stimmung seiner Ausführungen merklich, die Belagerung Warschaus steht unmittelbar bevor und verleiht seinem Leben mit der Verbannung ins Ghetto eine drastische Wende. Einige Versuche zu emigrieren scheitern, Hirszfeld wendet sich daraufhin gänzlich einer Verbesserung der gesundheitlichen Situation im Ghetto zu. Damit beginnen auch die besonders starken Passagen seiner Autobiografie, er gewährt dem Leser detaillierte Einblicke in das kaum vorstellbare Elend Warschaus ab dem Herbst 1939 innerhalb und außerhalb der 1940 errichteten Ghettomauern - sein Institut gerät in deutsche Hände, das wissenschaftliche Leben Polens wird zerstört und die deutschen medizinischen Standards stellt er als absolut ungenügend dar - er spricht von einer "Schändung der Wissenschaft" (194). Nicht mehr in der Rolle als internationale Forschergröße, sondern als schlichter Augenzeuge beschreibt Hirszfeld dann ausführlich, wie in der "Stadt des Todes" (203) Zehntausende an Unterversorgung sterben und wie Willkür und Brutalität in bis dahin unbekanntem Ausmaße herrschen. Er schildert präzise die Schikanierung und brutale Behandlung durch die Besatzer bis hin zu Massenerschießungen und zur Ermordung von Wehrlosen und Kindern.
Dabei erhöht es den Stellenwert seiner Erinnerungen entscheidend, dass er darin vielen Mitmenschen jener Zeit einen Platz gewährt: anonymen Waisen und dem erschossenen "unbekannten schmuggelnden Kinde" (207) ebenso wie aufopferungsvollen, uns heute bekannten Männern wie dem Pädagogen Janusz Korczak oder Adam Czerniaków, dem auf tragische Weise zur Kooperation gezwungenen Vorsitzenden des Judenrates. Hirszfeld nimmt Teil an Czerniakóws Dilemma, nicht alle Menschen retten zu können, sondern eine Wahl vornehmen zu müssen; und er rühmt Korczak für dessen selbstlose, unermüdliche Betreuung von Waisenkindern, mit denen er freiwillig in den Tod ging: "Das Waisenhaus habe ich oft besucht, denn dort umfing mich das Gefühl einer höheren Welt [...] Er lehrte sie Gerechtigkeit und Güte, brachte ihnen eine würdige Welt bei." (259)
Über dieses Zeugnis eigenen Erlebens hinaus sammelt und präsentiert Hirszfeld zahlreiche Informationen aus dem Vernichtungslager Treblinka und dem Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek. Obwohl selbst nicht vor Ort, erkennt er die Relevanz dieser Quellen und fügt sie in seine Autobiografie ein - in der er schon längst den Bereich rein persönlicher Erfahrungen und Betrachtungen verlassen hat. [2] Liefert er auf diese Weise Belege für Aktivitäten im Untergrund im Allgemeinen und jüdischen Widerstand im Besonderen, zeigt sich der getaufte Jude Hirszfeld an anderer Stelle, durchdrungen von der "Schönheit einer Religion der Liebe" (268), wie er das Christentum bezeichnet, durchaus kritisch im Umgang mit seiner ursprünglichen Konfession. Wiederholt folgt er seinerzeit gängigen Auffassungen der Völkerkunde und schreibt der "jüdische[n] Seele" pauschal bestimmte Eigenschaften zu; so befände sich "das durchschnittliche Niveau der jüdischen Gesellschaft unter dem Niveau anderer Gesellschaften" und sei "der reine Lebenshunger [...] zu wenig sublimiert durch Mitgefühl." (271) [3]
Die wiederholte Episodenhaftigkeit von Hirszfelds Autobiografie einschließlich flotter Wechsel zwischen Präsens und Präteritum hängt fraglos mit dem diaristischen Charakter seines Schreibens zusammen. Der Verfasser blickt nicht gereift und mit zeitlichem Abstand zurück auf sein Leben, sondern ist gefangen von seinem höchst ungewissen Schicksal in den letzten Kriegsjahren - einem Schicksal, das zusätzlich von dem Tod seiner an einer Lungenentzündung erkrankten Tochter überschattet ist. Trauer und Einsamkeit mögen mit dafür verantwortlich sein, dass er wiederholt in Erinnerungen an bessere Zeiten schwelgt und sich dabei in ein bisweilen allzu strahlendes Licht setzt. Mal zitiert er aus Rezensionen seiner Publikationen, mal aus seiner Rede anlässlich des Abiturs der Tochter; mal bezeichnet er seine wissenschaftlichen Kompetenzen als "Gnade" (31), mal gibt er sich Gedankenspielen über seine Studierenden hin: "Bereits wenn ich eintrat, umringten mich auf den Festen die Studenten: 'Unser geliebter Professor.' [...] [A]uf den Studentenfesten, hatte ich stets das Gefühl, über eine Blumenwiese zu spazieren. Eine Studentin wie ein Veilchen, die andere wie ein Gänseblümchen, wieder eine andere wie eine erblühende Rosenknospe [...] Ich führe diese Kinder zu den Gipfeln und zeige ihnen die weiten Horizonte." (106)
Gewiss sind solche Stilblüten nicht überzubewerten, inwiefern sich dahinter allerdings tatsächlich die von den Herausgebern der Ausgabe attestierte "Selbstironie" (422) versteckt, ist fraglich. Wesentlich gewinnbringender sind, wie beschrieben, die Passagen, in denen der spätere Kandidat für den Nobelpreis Einblicke in die Welt der Forschung jener Zeit gibt und andererseits Zeugnis ablegt über die verbrecherische Politik der Nationalsozialisten im Zuge der polnischen Besetzung. Und man fühlt sich bisweilen an die eindringlichen Berichte Oskar Rosenfelds [4] aus dem Ghetto in Lodz erinnert, wenn Hirszfeld seine Wahrnehmungen schildert und in all der Not nicht vergisst, die polnisch(-jüdische) Selbstachtung zu bezeugen: "Vom Grzybowski-Platz aus sieht man von Weitem Häuserruinen und die Allerheiligenkirche. Und darüber den schönen Himmel, den sie nicht zumauern konnten. Wir gehen mit hoch erhobenen Köpfen, um so viel Himmel wie möglich zu sehen - und so wenig Welt wie möglich." (210)
Anmerkungen:
[1] Zur Editionsgeschichte vgl. die Ausführungen von Katrin Steffen: "Die Welt will aber davon nichts wissen". Die Rezeption der Memoiren von Ludwik Hirszfeld und die Reaktionen auf seine Sicht des Lebens im Warschauer Ghetto, in: Ruth Leiserowitz / Joanna Nalewajko-Kulikov / Stephan Lehnstaedt (Hgg.): Lesestunde / Lekcja czytania, Warszawa 2013, 351-369. Das titelgebende Zitat ihrer Studie stammt von Hirszfeld selbst, als weitere Ursachen gelten sachliche Einwände ebenso wie die mangelnde Bereitschaft auf deutscher Seite, sich mit dieser Form der Aufarbeitung des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.
[2] Seine Quellen sind der Bericht der "Außerordentlichen polnisch-sowjetrussischen Kommission zur Untersuchung der von den Deutschen im Vernichtungslager Majdanek in der Stadt Lublin begangenen Verbrechen" aus dem Jahr 1945 (erschienen in Zürich unter dem Titel "Die Hölle von Majdanek") sowie die Broschüre "Vor den Augen der Welt", verfasst von Maria Kann für die Propagandakommission des Warschauer Bezirks der Heimatarmee.
[3] Die angebliche Tatsache, dass der "jüdische Pöbel der rückständigste Pöbel Europas [war]" (271) erklärt Hirszfeld mit dem Phänomen der Diaspora: das jüdische Volk habe seine besten Köpfe an die jeweiligen Gesellschaften gegeben, in denen es gelebt habe.
[4] Oskar Rosenfeld: Wozu noch Welt. Aufzeichnungen aus dem Ghetto Lodz. Herausgegeben von Hanno Loewy, Frankfurt am Main 1994.
Benedikt Faber