David M. Gwynn: The Goths (= Lost Civilizations), London: Reaktion Books 2017, 188 S., 41 Farb-, 18 s/w-Abb., ISBN 978-1-78023-845-6, GBP 15,00
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In den letzten beiden Jahrzehnten sind mehrere Bücher an die Seite von Herwig Wolframs monumentaler Monographie über die Goten getreten und beleuchten ihre Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. [1] Gwynn beschreitet einen anderen Weg als seine Vorgänger, insofern er konsequent auch die Wirkungsgeschichte der Goten bzw. des Terminus 'gotisch' ('Gothic') beleuchtet. Dementsprechend gliedert sich sein Buch in zwei Hauptteile: Während der erste eine knappe Geschichte der Goten bis zum Ende ihrer Machtbildungen in Italien und auf der Iberischen Halbinsel bietet (Kap. 1-4), zeichnet der zweite ihr Fortleben in Imaginationen, Diskursen und Monumenten sowie unterschiedliche Formen und Prozesse ihrer Aneignung vom Mittelalter bis in die Gegenwart nach (Kap. 5-8).
Der erste Teil bietet eher einen Abriss als eine ausgreifende Darstellung gotischer Geschichte. Die vier Kapitel setzen klare thematische Schwerpunkte: Frühgeschichte bis Adrianopel (Kap. 1), Alarich und die Eroberung Roms (Kap. 2), das Tolosanische Reich und die Ostgoten bis Theoderichs Italienzug (Kap. 3), das italische Ostgoten- und das spanische Westgotenreich (Kap. 4). Die Erzählung ist insgesamt straff und informationsreich gestaltet, so dass Leser sich rasch einen fundierten Überblick verschaffen können. Mitunter vermeidet der Autor freilich klare Festlegungen. So bleibt im ersten Kapitel in der Schwebe, ob wir Jordanes' Behauptung, die Goten seien einst von Scandza (Skandinavien?) aus aufgebrochen, vertrauen sollen. Denn "despite these limitations [hier: die Projektion von West- und Ostgoten in die Frühzeit], the broad outline of Jordanes' narrative of early Gothic history remains largely persuasive. A Scandinavian origin for the Goths cannot be definitely proven or dated, but accords with our sparse knowledge of Gothic tribal customs as well as the oral traditions that Jordanes drew upon" (19). An anderer Stelle wird auf Parallelen zwischen der Darstellung des Jordanes und isländischen Sagas hingewiesen, ohne dass klar wird, ob der Autor diese für tragfähig hält oder nicht (18).
Den gotischen Donauübergang sieht Gwynn - hierin vor allem Peter Heather folgend [2] - direkt von den Hunnen ausgelöst (die er mit gutem Grund nicht mit den Xiongnu gleichsetzen möchte, vgl. 25), und auch die schweren Konvulsionen des ersten Jahrzehnts des 5. Jahrhunderts werden auf einen hunnischen Westdrift zurückgeführt (37). Überzeugend ist die Rückführung der Eroberung Roms durch Alarich 410 vor allem auf den Druck, dem der Gotenführer seitens seiner eigenen Leute ausgesetzt war (43). Ob es sich bei dessen Verband aber um "just one of a number of Germanic tribes, a migratory people seeking a home" gehandelt hat (47), erscheint mir fraglich angesichts der Tatsache, dass dieser sich ausschließlich auf römischem Boden aus sehr heterogenen Elementen gebildet hat. Ein wenig knapp geraten erscheinen die Ausführungen zu den Gotenreichen in Italien und auf der Iberischen Halbinsel, was notwendig zu eigentlich erklärungsbedürftigen Akzentsetzungen führt, so etwa wenn der Gotenkrieg in Italien auf insgesamt einer Seite abgehandelt wird (70f.) oder die Behauptung, insgesamt hätten gute Beziehungen zwischen Ostgoten und Oströmern geherrscht, die Krise um Dalmatien und Sirmium ausblendet (65).
Zentrale These des zweiten Hauptteils ist, dass sich in England der Begriff 'Gothic' spätestens im 17. Jahrhundert so weit geöffnet habe, dass eine Vielzahl politischer und kultureller Phänomene mit ihm bezeichnet werden konnten (vgl. 103). Dementsprechend bildet die Rezeptionsgeschichte von 'Gothic' in England den Schwerpunkt der Kapitel zur Frühen Neuzeit, zum 19. Jahrhundert und zur jüngeren Zeit.
Vorgeschaltet ist ein Kapitel zu Renaissance und Reformation, das nach einem kurzen Überblick über mittelalterliche Gotenrezeption (Otto von Freising, Nibelungenlied - erstaunlicherweise unter Auslassung der isländischen Überlieferung) einen ambivalenten Blick auf 'die' Goten zutage fördert, der sich bis in die Gegenwart halten wird. Während Renaissance-Autoren wie Flavio Biondo die Goten als "heralds of decay" (91) zeichneten und mit dem Niedergang der Antike in Verbindung brachten, sahen von der Reformation beeinflusste Geister in ihnen kraftvolle, freiheitsliebende Heroen, die sich gegen das dekadente Rom auflehnten (z.B. Johannes Carion). Das Kapitel zur Frühen Neuzeit verengt die aufkommende Konkurrenz um 'gotische' Abstammung in Europa (spanische Herrscher und Adelige im Kontext der Reconquista, schwedischer Gotizismus [u.a. Johannes Magnus]) auf die Gotenrezeption in England. Aufgezeigt wird, wie eine zunehmende Betonung der germanischen (und damit gotischen) Abkunft der Angelsachsen u.a. unter Rückgriff auf die erst im 15. Jahrhundert entdeckte Germania des Tacitus zum Argument für die Begründung des britischen Parlamentarismus wurde. Nathaniel Bacon etwa "insisted upon the antiquity of English constitutional freedoms. The Saxons brought those freedoms to Britain, but the roots of parliamentary government went back even further to Tacitus' free Germans and particularly to the Goths" (117). "By the end of the seventeenth century", so das Fazit, "the idea of the 'Gothic constitution' was well established in English political thought" (117). Freilich konnten sich daneben auch in England weiterhin kritische oder gar negative Gotenbilder halten, und auch Edward Gibbon "represents a far more sophisticated and 'modern' approach to the Goths and their legacy than the works of previous centuries" (123).
Das 19. Jahrhundert als Zeitalter sich ausbildender Nationalstaaten gibt dem Autor Gelegenheit, einzelne Nationen auf ihre Gotenrezeption hin zu befragen. Im Zentrum steht wiederum England (womit Gwynn der von ihm untersuchten nationalstaatlichen Fokussierung letztlich selbst erliegt), insbesondere unter der Perspektive eines aufkommenden Gegensatzes zwischen 'Gothic' (im Sinne von angelsächsisch) und keltisch. Wenige Seiten sind auch dem Umgang mit 'Goten' in Deutschland gewidmet, auf denen der Name Felix Dahn fehlt, dafür aber ein Abschnitt Richard Wagners Ring des Nibelungen (Uraufführung: 1876) gewidmet ist, in dem auf den Rückgriff auf 'gotische' Traditionen aber konsequent verzichtet wurde (142). Nicht nur in diesem Kapitel bleibt freilich mitunter unklar, in welchem Verhältnis für den Autor 'gotisch' und 'germanisch' zueinanderstehen. Erinnert sei daran, dass antike Zeitgenossen die Goten nicht zu den Germanen rechneten, sondern eher zu den 'skythischen Völkern'.
Das abschließende Kapitel verfolgt noch einmal 'gotische' Traditionen bzw. Imaginationen seit dem Mittelalter (Kathedralen), über die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkommenden Gothic novels, die Popularisierung von 'Gothic' durch das Kino (Dracula- und Frankensteinfilme seit den 1930er Jahren) bis hin in gegenwärtige 'Subkulturen'.
Alles in allem bietet Gwynns mit qualitätvollen Abbildungen ausgestattete Monographie eine lesenswerte Einführung in die Geschichte der Goten sowie in all das, was nach dem Verschwinden ihrer Reiche mit ihnen bzw. lediglich dem Terminus 'gotisch' assoziiert werden konnte - und damit einen faszinierenden Ausschnitt einer diachronen Geistesgeschichte Europas und der USA.
Anmerkungen:
[1] Herwig Wolfram: Geschichte der Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie, München 2009. Vgl. etwa Peter Heather: Goths and Romans 332-489, Oxford 1991; Peter Heather: The Goths, Malden / Oxford 1998; Wolfgang Giese: Die Goten, Stuttgart 2004; Gerd Kampers: Geschichte der Westgoten, Paderborn u.a. 2008; Michael Kulikowski: Die Goten vor Rom, Darmstadt 2009; Christine Delaplace: La fin de l'Empire romain d'Occident. Rome et les Wisigoths de 382 à 531, Rennes 2015.
[2] Vgl. Peter Heather: The Huns and the End of the Roman Empire, in: EHR 110 (1995), 4-41; ders.: Der Untergang des römischen Weltreichs, Stuttgart 2007.
Mischa Meier