Rezension über:

Rita Aldenhoff-Hübinger / Catherine Gousseff / Thomas Serrier (Hgg.): Europa vertikal. Zur Ost-West-Gliederung im 19. und 20. Jahrhundert (= Phantomgrenzen im östlichen Europa; Bd. 5), Göttingen: Wallstein 2016, 230 S., ISBN 978-3-8353-1954-7, EUR 19,90
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Rezension von:
Nadja Weck
Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Nadja Weck: Rezension von: Rita Aldenhoff-Hübinger / Catherine Gousseff / Thomas Serrier (Hgg.): Europa vertikal. Zur Ost-West-Gliederung im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2016, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 2 [15.02.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/02/32856.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Rita Aldenhoff-Hübinger / Catherine Gousseff / Thomas Serrier (Hgg.): Europa vertikal

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Dazu aufgefordert, sich die Grenzen Europas vorzustellen, werden wohl die meisten europäischen Zeitgenossen vertikale Linien vor ihrem inneren Auge sehen. Der Frage, warum auf der mental map die von Nord nach Süd verlaufenden Vertikalen stärker ausgeprägt sind als die sich von West nach Ost erstreckenden Horizontalen, widmet sich der vorliegende Sammelband, der im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts über "Phantomgrenzen in Osteuropa" entstanden ist.

Der von einem Kompetenznetzwerk unter Leitung Béatrice von Hirschhausens entwickelte Ansatz der Phantomgrenzen bildet den gemeinsamen methodischen Nenner der einzelnen Beiträge. Vergleichbar mit den von Patienten empfundenen Schmerzen amputierter Gliedmaßen, können auch Grenzen, obwohl nicht mehr existent, noch in den Köpfen von Menschen präsent sein. Jene Region in Europa, in der im vergangenen Jahrhundert besonders oft Grenzen verschoben oder abgeschafft wurden, war Ostmitteleuropa. Der geo-grafische Schwerpunkt des Sammelbandes liegt - mit einigen Ausnahmen, in denen auch der Rhein Gegenstand der Betrachtungen ist - daher auf dieser Region.

Die einzelnen Aufsätze konzentrieren sich auf das 19. und 20. Jahrhundert. Frithjof Benjamin Schenk geht in seinem Beitrag über die Entstehung des Konzepts "Osteuropa" jedoch weiter in die Vergangenheit zurück. Durch Auswertung einer Vielzahl verschiedensprachiger Quellen weist er nach, dass bereits Anfang des 18. Jahrhundert damit begonnen wurde, Russland im Osten statt wie bis dahin üblich im Norden zu verorten. Wie sich im Westen aus der geografischen Umverortung dann nach und nach ein politisches Konzept von "Osteuropa" und die Vorstellung der Teilung des Kontinents entlang einer vertikalen Linie entwickelten, ist Hauptgegenstand von Schenks Beitrag. Zur Lektüre zu empfehlen ist der Aufsatz auch wegen der prägnanten Zusammenfassung des Forschungsstands sowie der Erläuterungen zur Rezeption des Osteuropa-Konzepts in Osteuropa selbst.

In Gregor Thums Beitrag geht es um die einstige, sich über 1800 Kilometer erstreckende Ostgrenze des Heiligen Römischen Reiches. Thum widmet sich jedoch weniger der erstaunlichen Beharrungskraft, die diese Vertikale auch nach der Reichsauflösung im Jahr 1806 entfaltete. Stattdessen fragt er, warum die Grenze in ihrem deutsch-polnischen Abschnitt nach dem Zweiten Weltkrieg vollkommen von der Landkarte verschwinden konnte. Thums fakten- und kenntnisreiche Antwort, bei der er etwas sparsam mit Literaturangaben umgeht, kann auch als Kurzfassung deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhundert gelesen werden. Die Abbildung einer Karte hätte seine Ausführungen besser veranschaulicht.

Der Beitrag von Hans-Dietrich Schultz über "Raumkonstrukte der klassischen deutschen Geographie" rundet den ersten Abschnitt ab. Darin beschäftigt er sich unter anderem mit der Bedeutung von Flüssen als trennende oder verbindende Elemente und stellt so eine Verbindung zum zweiten Abschnitt "Flüsse: Trennende 'Coupures', verbindende 'Coutures' " her. Inwiefern Flüsse in der Vergangenheit zu Zwecken der Nationalstaatsbildung instrumentalisiert worden sind, legt Beata Halicka in ihrem Beitrag über Rhein, Oder und Weichsel dar; der zeitliche Schwerpunkt liegt auf dem 18. bis 20. Jahrhundert Sie plädiert für eine stärkere Beschäftigung mit Flüssen als Gestaltern von Kulturlandschaften und zeigt, wie lohnend es sein kann, sich auch mit deren touristischen, wirtschaftlichen und industriellen Aspekten zu beschäftigen. Mit Verweis auf zahlreiche Publikationen und Projekte, die sich mit Flüssen als europäischen Erinnerungsorten auseinandersetzen, wirft sie die Frage auf, ob Flüsse hier nicht wieder für bestimmte politische Zwecke instrumentalisiert werden. Für das 19. Jahrhundert analysiert Thomas Serrier, welche Bilder vom Anderen bei den jeweiligen Nachbarn an Oder und Rhein existierten. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass "der Barbar" immer östlich des Flusses verortet wurde. Rita Aldenhoff-Hübinger widmet sich in ihrem Beitrag der Geschichte Ostelbiens und fragt nach dem Fortwirken des im letzten Drittel des 19. Jahrhundert entstandenen Bildes von dieser Region als Hort der Reaktion und Rückständigkeit. Ihre Studie ist klar strukturiert und faktenreich und angesichts des guten Abschneidens der rechtspopulistischen AfD vor allem in den östlichen Bundesländern bei der letzten Bundestagswahl von erstaunlicher Aktualität.

Das Ausloten des wirtschaftlichen und touristischen Nutzens von Flüssen sowie die Beschreibung der landschaftlichen Schönheit rechts und links ihrer Ufer wirkten Versuchen entgegen, Flüsse lediglich als zivilisatorische Grenzen zum jeweiligen Nachbarn zu konstruieren. Markus Krzoska zeigt, wie ambivalent die Weichsel (insbesondere ihr unterer Flusslauf) im deutschen Diskurs seit Mitte des 19. Jahrhundert dargestellt wurde. So existierten sowohl Beschreibungen der Weichsel als "Kulturscheide" und "Strombarriere" wie auch als "Völker verbindendes Band". Nicht nur weil den wenigsten Lesern die Brynica ein Begriff sein dürfte, sei der Beitrag Jawad Daheurs über diesen gerade einmal 55 km langen, in Südpolen gelegenen Fluss zur Lektüre empfohlen. Der Verfasser zeigt, wie das in der Mitte des 19. Jahrhundert entstandene Bild der Brynica als "zivilisatorischer Grenze" und althergebrachte Stereotype über die Bewohner der jeweils anderen Seite des Flusses bis heute nachwirken. Als ein Vorläufer des Konzepts der Phantomgrenzen kann die in den 1960er Jahren in Polen entwickelte Theorie der Reliktgrenzen (granicy reliktowe) gelten. Angesichts des Umstands, dass wissenschaftliche Forschung und Theorien aus dem Osten im Westen nur selten Beachtung finden, sind Daheurs Ausführungen zur Entstehung dieses Konzepts sehr verdienstvoll.

Im Mittelpunkt von Catherine Gousseffs Beitrag stehen die Bug-San-Linie und die Frage, welche Argumente ins Feld geführt wurden, um diese während des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts hastig gezogene Grenze, die das einstige Galizien teilte, im Nachhinein zu rechtfertigen. Bei der Implementierung dieser Grenze kam es zu Zwangs-umsiedlungen ukrainischer und polnischer Bevölkerungsgruppen. Die Beiträge von Bettina Bruns und Jarosław Jańczak beschäftigen sich mit der östlichen Außengrenze der Europäischen Union. Am Beispiel des zwischen Weißrussland und Polen verlaufenden EU-Grenzabschnitts erläutert Bruns die ambivalente Wirkung dieser Grenze zwischen Abschottung und Integration. Jańczak erörtert, inwiefern der einst den europäischen Kontinent teilende Eiserne Vorhang als Phantomgrenze bis in unsere Gegenwart zu spüren ist.

Grenzen haben sich in den letzten Jahren zu einem beliebten Forschungsgegenstand entwickelt. Angesichts der damit einhergehenden großen Anzahl von Neuerscheinungen zu diesem Thema sei dieser Sammelband all jenen empfohlen, die sich für das Entstehen von Grenzen und ihr Beharrungsvermögen speziell in Ost- und Zentraleuropa interessieren. Ein großes Verdienst der meisten Aufsätze ist die Anwendung des in der Einleitung prägnant erklärten Ansatzes der Phantomgrenzen.

Nadja Weck