Christian Fuhrmeister / Monika Hauser-Mair / Felix Steffan (Hgg.): Kunst und Nationalsozialismus. vermacht. verfallen. verdrängt, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2017, 367 S., 117 Farb-, 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-0569-1, EUR 29,95
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Kunst und Kulturpolitik der Zeit zwischen 1933 und 1945 sind Gegenstand zahlreicher Publikationen. Nach den Paradigmenwechseln Anfang der 1970er-Jahre und in den späten 1980er-Jahren geht es in der Forschung heute um eine Pluralität und Ausdifferenzierung der Erklärungsmodelle. Neue Impulse gingen von der seit der Jahrtausendwende betriebenen konsequenten Veröffentlichung der Dokumente und Artefakte im Netz aus. [1] Prüft man die Bestände der Museen und Sammlungen hinsichtlich der in den offiziellen Großen Deutschen Kunstausstellungen von 1937 bis 1944 vertretenen Künstler, fällt der im Vergleich zu anderen regionalen Museen große Bestand in der Städtischen Galerie Rosenheim auf. Zur Sammlung der Städtischen Galerie liegt jetzt die Publikation "vermacht. verfallen. verdrängt. Kunst und Nationalsozialismus. Die Sammlung der Städtischen Galerie Rosenheim in der Zeit des Nationalsozialismus und in den Nachkriegsjahren" vor, die dort anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Herbst 2017 von Christian Fuhrmeister, Monika Hauser-Mair und Felix Steffan herausgegeben wurde. Die Publikation verfolgt einen komplexen Ansatz: Sie verortet das Projekt in der aktuellen Forschung und nähert sich dem Thema über die Gründungsgeschichte und Architektur des Ausstellungsbaues (Mareike Hetschold), analysiert die Wirkungsgeschichte der Ausstellungen anhand der Besucherbücher (Anja K. Frisch), untersucht die Entstehung der Sammlung (Sofie Eikenkötter) sowie Leben, Werk und Wirkungsgeschichte einzelner Künstler und hinterfragt immer wieder die "Rolle regionaler Künstlersozialgefüge bei der Entwicklung und Genese des Kunst- und Kulturgeschehens im 'Dritten Reich'" am Beispiel Rosenheims (Felix Steffan 76f.).
Ausstellungsprojekt und Katalog entstanden unter Mitarbeit eines Seminars an der LMU München und zeigen einen breiten, sachorientierten Zugriff auf Grundlage einer umfassenden Sichtung und Auswertung der relevanten Quellen. Beleuchtet wird dabei auch das Verhältnis zu München, zum Haus der Deutschen Kunst, zu den offiziellen Kunstausstellungen des NS-Regimes und deren Inszenierung (u.a. Brigitte Zuber). Der programmatische Rosenheimer Ausstellungsbau wurde 1937, nur wenige Wochen nach dem Haus der Deutschen Kunst in München, eingeweiht.
Sehr genau gehen die einzelnen Beiträge auf die aktuellen Fragen der Forschung ein und benennen Desiderate wie eine fehlende Begrifflichkeit zur Bewertung konservativer Kunst oder Fragen des Umgangs mit den "Unschärfen" der NS-Kunstpolitik (Jessica Popp 68). Greift die klassische kunsthistorische Objektanalyse auch bei den vom NS-Regime beauftragten oder instrumentalisierten Werken und ist sie überhaupt legitim? Von der Auseinandersetzung mit diesen Fragen sind nicht nur Impulse für die Forschung zur Kunst unter dem NS-Regime, sondern für die Disziplin insgesamt zu erwarten.
Sechzehn monografische Untersuchungen gelten den Autoren der Rosenheimer Sammlung. Nachdem jahrzehntelang nur die Zentren und exponierten NS-Künstler betrachtet wurden, richtet sich der Blick jetzt auf die Provinz [2] und auf die Künstler der "zweiten Reihe", die - statistisch gesehen - das Gros der Künstler nicht nur im sogenannten "Dritten Reich" stellen. Sie prägen das künstlerische Klima einer Region und tragen wesentlich zur Identifikation bei. Maler wie Constantin Gerhardinger, Sepp Hilz, Hans Müller-Schnuttenbach, Rudolf Sieck oder Edmund Steppes waren auch regelmäßig auf den Münchner Großen Deutschen Kunstausstellungen vertreten, doch - wie Christian Fuhrmeister und Felix Steffan (76) betonen - ist die Forschungslage sogar zu exponierten GDK-Künstlern schlecht. Insofern schließt der Band für Rosenheim eine Lücke. Doch gerade in der Provinz, das zeigen die Beiträge, gab es über persönliche Beziehungen auch Verstrickungen mit dem NS-Regime - Verstrickungen, die eine Beurteilung des Werkes erschweren und Fragen nach dem Zusammenhang zwischen der Beurteilung der persönlichen Schuld und der Sicht auf die ästhetische Relevanz des Werkes (und umgekehrt) aufwerfen. Die Monografien belegen vor allem Kontinuitäten in der künstlerischen Entwicklung vor und nach 1933 sowie nach 1945, Kontinuität oft auch in der Wertschätzung durch das Publikum und den Markt.
Der Katalog bricht mit überkommenen Deutungsmustern wie dem der "inneren Emigration" (Josefine Preißler) oder dem der Polarisierung Avantgarde-Regression (Jessica Popp am Beispiel Hans Gött).
Anton Kerschbaumer, 1885 in Rosenheim geboren und bereits 1931 in Berlin verstorben, entwickelte sein Werk in der Auseinandersetzung mit der Moderne. Brüche und Widersprüche zeigt aber auch dessen Wirkungsgeschichte: Anfangs in seiner Heimatstadt unverstanden (191), jedoch seit 1932 in der Sammlung vertreten, später durch die Aktion "Entartete Kunst" diffamiert, nach 1945 weitgehend vergessen, setzte erst in den vergangenen Jahren - wie bei vielen weniger bekannten Künstlern der Moderne - eine Wertschätzung seiner Arbeiten ein.
Oliver Kases Katalogbeitrag widmet sich einem nach wie vor umstrittenen Thema, dem Ausstellen der Artefakte. Kase weist völlig zu Recht darauf hin, dass "Ausstellen, Kommentieren und Kontextualisieren originaler Kunst" Aufgabe des Kunstmuseums ist. Allerdings, so Kase, fehlen Kriterien und Modelle zum Umgang mit der ästhetischen Relevanz der im NS-Regime entstandenen Werke (322ff.). [3]
Die Publikation wird dem selbst formulierten Anspruch einer "ergebnisoffenen Grundlagenforschung" (Fuhrmeister 12) gerecht. Sie führt nicht nur in die Forschung zur Kunst und Kunstpolitik unter dem NS-Regime ein, sondern lässt auch Fragen und Leerstellen zu, zeigt sehr genau die Grenzen der gegenwärtigen Forschung und formuliert Desiderate. Vielleicht liegt darin - abgesehen von der Bedeutung für die regionale Kunstgeschichtsschreibung - die eigentliche Stärke der Publikation. Die Beiträge sind jedoch von einer unterschiedlichen Bearbeitungsintensität. Eine abschließende redaktionelle Kontrolle wäre auch für die Lesbarkeit gut gewesen.
Anmerkungen:
[1] Das Deutsche Historische Museum Berlin stellte 2008 die Linzer Liste ins Netz (https://www.dhm.de/datenbank/linzdb/), 2009 wurde die Datenbank zum "Central Collecting Point München" veröffentlicht (https://www.dhm.de/datenbank/ccp). Am 20.10.2011 wurde vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, die Datenbank "http://www.gdk-research.de" freigeschalten, am Kunsthistorischen Institut der FU Berlin besteht seit 2002 die Forschungsstelle "Entartete Kunst", die das Gesamtverzeichnis der 1937 in deutschen Museen beschlagnahmten Werke der Aktion "Entartete Kunst" veröffentlichte (https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/db_entart_kunst/datenbank).
[2] Vgl. dazu auch Marlene Lauter (Hg.): Tradition und Propaganda. Eine Bestandsaufnahme. Kunst aus der Zeit des Nationalsozialismus in der Städtischen Sammlung Würzburg, Würzburg 2013; Michael Fuhr (Hg.): (Un)beteiligt. Kunst im Dritten Reich: Aus der Sammlung des Museumsberg Flensburg, Flensburg 2016.
[3] Problematisch ist allerdings, dass der Femebegriff "Entartete Kunst" von Veranstaltern als Synonym für "Klassische Moderne" verwendet wird. U.a., wenn auch in Anführungsstrichen, die allerdings in der Presse und Literatur (vgl. auch Kase 335) oft weggelassen werden, 2015/2016 von der Pinakothek der Moderne: "GegenKunst. 'Entartete Kunst' - NS-Kunst - Sammeln nach '45".
Marlies Schmidt