Gülru Çakmak: Jean-Léon Gérôme and the Crisis of History Painting in the 1850s, Liverpool: Liverpool University Press 2017, XVI + 229 S., 13 Farb-, 36 s/w-Abb., ISBN 978-1-78694-067-4, GBP 75,00
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Mit detaillierten Bildanalysen ausgewählter Werke legt Gülru Çakmak mit ihrem Buch über Jean-Léon Gérôme und die Krise der Historienmalerei in den 1850er-Jahren eine in ihrer Dissertation wurzelnde Publikation vor, welche das Œuvre des Salonkünstlers in einem der bedeutendsten ästhetischen Diskurse der Epoche verortet. Die außerordentliche Professorin für europäische Kunst des 19. Jahrhunderts an der University of Massachusetts in Amherst konzentriert sich in fünf Kapiteln auf vier Hauptbeispiele aus dem Gesamtwerk Gérômes, an denen sich überzeugend zeigen lässt, wie der Maler das Problem der Realisierung von Historiengemälden in einem Zeitalter auffängt, dessen Vorstellung von Zeit und Kunst vermeintlich durch das Motiv des Transitorischen dominiert ist.
Weitestgehend mit Schwarz-Weiß-Abbildungen bestückt und ergänzt durch einen Tafelteil mit den wichtigsten Analysebeispielen und Details, stellt Çakmak in einem sowohl rhetorisch als auch wissenschaftlich anschaulichen Text ihre Kernthese vor: "In a handful of paintings made towards the end of the 1850s, Gérôme aspired to make history truly experiential by mobilizing the viewer's imagination, bridging the abyss between the lost past and the living present. [...] He did so by inventing compositional devices that acknowledge the viewer not as an abstraction but as a historically situated and embodied subject" (1-2). Im Zuge dessen geht sie aber auch auf Themen ein, die in der neueren Forschung zur Salonmalerei des 19. Jahrhunderts immer wieder in Erscheinung treten. So wird sowohl die Debatte um die 'geglättete Oberfläche' von Gérômes Gemälden ebenso in die übergeordnete Thematik eingebettet wie die nur scheinbare Opposition von Avantgarde und Akademie in Sachen Innovation. Letzteres ist in der Vergangenheit bereits in den Publikationen des New Yorker Dahesh Museum [1] oder in der Münchener Ausstellung "Gut Wahr Schön" (2017) [2] hinterfragt worden.
Nach der großen Gérôme-Wanderausstellung, die 2010/11 von Los Angeles nach Paris und Madrid reiste [3], ist Çakmaks Buch die erste umfängliche Monografie, die sich erneut dem Werk des Malers und Bildhauers zuwendet. In ihrem inhaltlichen Fokus schließt die Arbeit jedoch vor allem an Matthias Eberles, im selben Jahr erschienene Studie zur realistischen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts an. [4]
Während Eberle die Revolution von 1830 zum Ausgangspunkt seiner Ausführungen macht und so die Genese des genre historique nachzeichnet, setzt Çakmak im ersten Kapitel ihres Buches mit der Weltausstellung von 1855 in Paris an. Dort wurden Ingres und Delacroix gefeiert, doch die Salonkritiken von Baudelaire und Gautier aus den Jahren 1846 und 1848 stellten die zukünftigen Ambitionen einer großen Historienmalerei in Frage. "How could modern viewers experience bygone events if their explicit representation on canvas failed to generate any kind of response except indifference or incredulity, unable to overcome the viewer's ontological otherness?" (29)
Scheinbar ganz entsprechend dem zeitgenössischen Topos der intellektuell zugrunde gehenden Hochkunst, die sich am Geschmack der Massen ausrichtet, präsentiert Gérôme im Salon von 1857 sein Werk "Sortie d'un bal masqué". Das Gemälde, welches den blutigen Ausgang eines Duells nach einem Maskenball zeigt und die ikonische Figur eines sterbenden Pierrots wirkmächtig inszeniert, wird durch Çakmaks detaillierte Analyse, die oftmals wie eine regelrechte Spurensuche daherkommt, rehabilitiert. Keineswegs biedert sich Gérôme mit dem kleinformatigen Genre lediglich bei einem unverständigen Publikum an, sondern verarbeitet darin sowohl kunsthistorische Anleihen (so Davids "Der Tod des Marat", 1793) als auch kunsttheoretische Tendenzen der eigenen Zeit. So legt Çakmak beispielsweise überzeugend dar, wie der Maler offenbar Stendhals und Hugos Gedanken zur modernen Tragödie aufgreift.
Neben weiteren treffenden Beobachtungen sei hier nur noch die These hervorgehoben, nach der "Sortie d'un bal masqué" eine Art paragone-Reaktion auf die Fotografien darstelle, die Adrien Tournachon 1855 vom berühmten Pantomimen Charles Deburau anfertigte. "While Tournachon's Deburau photograph was a surface image arresting the indexical imprints of a person who existed at one specific moment in the present time, Duel proposed the medium of painting as an experiential universe with an imaginary depth that encompassed multiple temporalities" (64).
Die unterschiedlichen Zeitebenen, von denen Çakmak hier spricht, sind in diesem Gemälde von den Zeitgenossen noch als Anachronismen kritisiert worden. In den folgenden Beispielen wird jedoch immer deutlicher, wie die regelrechte Schichtung von historischen Ebenen zum Charakteristikum von Gérômes neuer Historienmalerei wird.
Im anschließenden Kapitel wendet sich die Autorin einem nur noch als Fotografie überlieferten Gemälde zu, das Gérôme im Salon von 1857 präsentierte: "Prière à la maison d'un chef Arnaut". Neben einer differenzierten Einbettung in den zeitgenössischen Orientalismus gelingt es Çakmak ebenso, anhand der "peinture ethnographique" Gérômes darzulegen, dass sich die Suche nach einer 'neuen Malerei' nicht eindeutig in konservative und progressive Positionen aufspalten lässt, wie es beispielsweise Patricia Mainardi konstatierte [5], sondern Gérôme genauso Teil des Diskurses ist wie Courbet.
Çakmaks dichte Beschreibung erfährt einen Höhepunkt, wenn sie im letzten Analysekapitel die Caesar-Bilder, die Gérôme zwei Jahre später zum Salon einreichte, unter verschiedenen Gesichtspunkten interpretiert. Obwohl sich der Künstler ein vermeintlich konventionelles Thema sucht - die Ermordung Caesars -, kann er vor allem durch kompositorische Mittel und bewusst gesetzte Leerstellen im Bild eine neue Art der Reaktion im Betrachter hervorrufen. Durch Vergleiche mit Vincenzo Camuccinis "Morte di Cesare" (1804-05) und Géricaults "Floß der Medusa" (1819) kommt Çakmak zu folgender Beobachtung: "[...] instead of conjuring a response by showing pathos-generating cues of literal violation inflicted on fictive or historic heroes, César's compositional structure threatens the viewer's own corporeal wholeness" (158).
Damit geht Çakmak grundsätzlich von einem beweglichen Betrachter vor dem Bild aus, der durch anamorphotische Verzerrungen zu variablen Deutungsansätzen gelangt. Dies lässt ihre Publikation auch über die Grenzen des thematischen Schwerpunkts hinaus überaus relevant werden. Sowohl methodisch als auch inhaltlich überzeugt der neueste Beitrag zur Aufarbeitung der akademischen Kunst im 19. Jahrhundert also und gibt wichtige Impulse für die vertiefte Analyse von Kunstwerken, die sich nur scheinbar auf den ersten Blick erschließen lassen.
Anmerkungen:
[1] Alia Nour: Academic Splendor. 101 Masterpieces from the Dahesh Museum of Art, New York 2014. Vgl. meine Rezension unter http://www.sehepunkte.de/2018/09/28324.html.
[2] Roger Diederen / Laurence des Cars (Hgg): Gut Wahr Schön. Meisterwerke des Pariser Salons aus dem Musée d'Orsay, München 2017. Vgl. meine Rezension unter http://www.sehepunkte.de/2018/12/32244.html.
[3] Laurence des Cars / Dominique de Font-Rélaux / Édouard Papet (eds.): The Spectacular Art of Jean-Léon Gérôme (1824-1904), Paris 2010; Scott Allan / Mary Morton (eds.): Reconsidering Gérôme, Los Angeles 2010.
[4] Matthias Eberle: Im Spiegel der Geschichte. Realistische Historienmalerei in Westeuropa 1830-1900, München 2017.
[5] Patricia Mainardi: Art and Politics of the Second Empire. The Universal Expositions of 1855 and 1867, New Haven, CT 1987, 117f.
Lisa Hecht