Anne Schröder-Kahnt / Claus Veltmann (Hgg.): Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert, Wiesbaden: Harrassowitz 2018, 215 S., 160 Abb., ISBN 978-3-447-10967-3, EUR 26,00
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Zugegeben, ich habe ein Faible für Ausstellungskataloge: Weil sie die Dinge zu einem Thema, die eine Ausstellung gesammelt und geordnet vor Augen führt, kommentiert verzeichnen, mit erläuternden Abhandlungen im historischen Kontext und im aktuellen Wissenschaftsdiskurs verorten und einem so einen ebenso vielseitigen wie plastischen Zugriff auf die Sache gewähren. Auf den von Anne Schröder-Kahnt und Claus Veltmann herausgegebenen Katalog der Jahresausstellung 2018 in den Franckeschen Stiftungen trifft das ganz gewiss zu. Zumal hier die Aufsätze das Ausgestellte nicht nur nach der ein oder anderen Richtung hin, sondern systematisch kommentieren und die Ausstellungsgliederung, ihre Einzelthemen und die Objekte und Abbildungen dazu wohl gewählt sind. Davon, dass der auf gutem Papier, abbildungsreich wohlgestaltete Band nur 26.- Eur. kostet, gar nicht zu reden.
Man reist mit. Die Ausstellung hat hierfür sechs Ziele geboten: Einleitend wird einem Reisen im frühen 18. Jahrhundert allgemein und das der Pietisten im Besonderen nahegebracht und man begleitet Francke auf seiner Reise nach Süddeutschland 1717/18. Dann geht es in die weite Welt nach Indien und in den Orient - zur Dänisch-Halleschen Mission nach Tranquebar an die Südostküste Indiens und mit Stephan Schultz, dem Mitarbeiter und späteren Direktor des hallischen Institutum Judaicum et Muhammedicum, das zur Judenmission eingerichtet worden war, nach Kairo und Jerusalem. Der dritte Reiseraum sind die Niederlande, eigentlich genauer die Waisenhausmodelle der dort schon erfolgreich etablierten Einrichtungen, die Georg Heinrich Neubauer, engster Mitarbeiter Franckes beim Bau der halleschen Anstalten, auf seiner Reise in die Niederlande 1697/98 studierte. Im fünften reisen nicht die Pietisten mit Gott oder sonstigen Anliegen in die Welt, sondern die Arzneien der Medikamenten-Expedition der Franckeschen Stiftungen. Im sechsten sorgt sich Heinrich Milde, ein Mitarbeiter Franckes, der Pietistisches ins Tschechische brachte, ein Übersetzungskollektiv von Muttersprachlern leitete und bis 1736 rund 50.000 Exemplare protestantischer Erbauungsliteratur auf Tschechisch produzierte (147), auf seinen Reisen um die katholisch unterdrückten böhmischen Protestanten. Mit der Reise Heinrich Wilhelm Ludolfs, der eigentlich wegen seiner Grammatica Russica bekannt ist und Francke Russisch beigebracht hat, nach - wie könnte es anders sein - Jerusalem schließt die Ausstellung der pietistischen Reisewelt. Den Aufsätzen folgt jeweils ein reich mit Abbildungen der wichtigsten Objekte ausgestattetes, mit Erklärungen versehenes Verzeichnis der zugehörigen Ausstellungsstücke.
Am Ende des Katalogs führen zwei Reisen - in den Beiträgen von Markus Matthias und Thomas Müller-Bahlke - noch weiter, sozusagen in die Herzkammern des Pietismus hinein, zur "Reise ins Ich" mit den pietistischen Reisemetaphern und der Reise in "die Kunst- und Naturalienkammer des Halleschen Waisenhauses als Schaufenster in die Welt". Man wundert sich, dass man ausgerechnet bei den Pietisten dabei nicht von 'Wunderkammer' spricht, und denkt dann plötzlich: eigentlich zu Recht, wenn man an die Netzwerk- und Institutionalisierungsbetriebsamkeit pietistischer "Weltmission" und "Reich-Gottes-Arbeit" denkt (20), die die Pietisten in holprigen Kutschen auf Touren zur Praxis pietatis trieb. Man lief dem beneideten Jesuitenerfolg (25) hinterher in die sich allerorts ausrollende Kolonial- und Handelswelt hinein und wurde dabei vor das Weltschaufenster der Kunst- und Naturalienkammer gestellt, die eben keine Wunderkammer mehr war.
Anne Schröder-Kahnert hat ihre Einleitung zum Reisen allgemein und dem pietistischen Reisen sachlich pragmatisch geschrieben. Man erfährt etwas zur Schifffahrt und Post, der Kutschenentwicklung, den allgemeinen Reisebedingungen und bekommt damit einen Einblick in die sich entwickelnde Reiseinfrastruktur. Dieter Ising begleitet Francke auf das Theologen-Networking und die Werbetour nach Süddeutschland, besonders zu Johann Albrecht Bengel. Heike Liebau kümmert sich um die Reisen "hallische[r] Missionare[] nach und durch Indien": "Kontaktzonen" (57) entstanden, aus denen die Missionare Wissen ziehen. Die Passion der Christusnachfolge wird als "Missionsauftrag, Wissensdurst und Abentheuerlust", wie der Aufsatztitel lautet, zu Auftrag, Durst und Lust - umgewandelt also in alle Register weltlicher Triebhaftig- und Betriebsamkeit. Letzterer folgte auch Holger Zaunstöcks Georg Heinrich Neubauer, der niederländische Waisenhausmodelle auf Schritt und Tritt seiner Reise studierte und so die Fußstapfen vermaß, denen man in Halle nachfolgen konnte. Claus Veltmann skizziert den weltweiten Arzneimittelvertrieb der Medikamenten-Expedition, die allein 1764 für die Zeit ungeheure 34.000 Rthl. Einnahmen verbuchte. Der Beitrag fällt aus dem Rahmen, lässt dabei jedoch den größeren Zusammenhang pietistischen Reisens deutlich werden: Welt-Gottes-Arbeit als Mitarbeit an einer mit Welthandel, Weltbildung und Weltkolonisierung betriebenen europäischen Weltmissionierung. Diese operierte mit Kommunikation und Vernetzung, wie Brigitte Klosterberg an Heinrich Mildes Unterstützung böhmischer Protestanten mit tschechischer Erbauungsliteratur demonstriert. Gottes Arbeit als paperwork.
Nach Jerusalem wird zweimal gereist, einmal in der Beschreibung von Daniel Haas durch Stephan Schultz 1756, dessen Reise sich weder als Missionsreise noch als Bildungsreise (73) bezeichnen lasse; eher als Transformation religiöser Mission in Spracherwerb und Tourismus und damit in den Kolonialismus einer im Entstehen begriffenen Orientalistik. Heinrich Wilhelm Ludolf dagegen war 1699 noch barock gepilgert. Zuhause lässt er sich malen: Allongeperücke auf dem Kopf, orientalisch gewandet, der rechte Unterarm von einer Pilgertätowierung bedeckt, einen silbergefassten Bezoarstein in der Hand zentral im Bild - Anne Schröder-Kahnt beschreibt es. Bezoarsteine - verklumptes Unverdauliches in Ziegen und Kühen -, in denen man eine Universalmedizin gegen Vergiftungen sah, waren Naturwunder. Die Wunderkammern der wittelsbachischen und Habsburger Konfessionsfeinde in München und Wien besaßen einige davon. 50 Jahre später wird Schultz nicht den Bezoar, wohl aber Ludolfs Reisebeschreibung für seine orientalistische Vermessungsreise benutzen.
Wanderer, die auf der Himmelsstraße den Samen Gottes ausstreuen, um Krieg zu führen in den Ländern des Bösen - eine Sache, die für Francke wenigstens die "Geschäfte" Gottes und nicht Bildung intendierte (193) - Pilger, die nach getanem Lebenslauf ihre letzte Reise antreten zu Gott, ein konzentrierter Weg, von dem nicht abzuschweifen ist, etwa ins literarische Fahrwasser Gullivers und Robinsons: Markus Matthias umreißt die pietistische Reisemetaphorik. Der Band endet mit Thomas Müller-Bahlkes Einblick in die Kunst- und Naturalienkammer des Waisenhauses als einem "Schaufenster in die Welt". "Die Aneignung der Welt fand im Mikrokosmos der Kunst- und Naturalienkammer statt und machte die Zöglinge mit Flora, Fauna und Kulturen oft weit entfernter Weltgegenden bekannt." (208) So standen die Pietisten da wie wir heutige Konsumenten vor unseren Schaufenstern der Welt, den alten in den Städten und den neuen im weltweiten Netz.
Will man auf Defizite verweisen, dann vielleicht auf das Fehlen des pietistischen und insbesondere auch radikalpietistischen Reisens in die neue amerikanische Welt.
Martin Gierl