Jens Ruppenthal: Raubbau und Meerestechnik. Die Rede von der Unerschöpflichkeit der Meere (= Historische Mitteilungen. Beihefte; Bd. 100), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018, 293 S., ISBN 978-3-515-12121-7, EUR 56,00
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Bereits Jules Vernes träumte vom Meeresbergbau: "Dieser Einfall - mit Hacke und Pickel im Taucheranzug" (Ruppenthal, 174) blieb jedoch nicht in der fantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Die Ressourcen des Meeres, Fische und Manganknollen, schmiedeten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungewohnte Akteurskoalitionen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Publizistik.
Diesem Thema widmet sich die inspirierende, hervorragend recherchierte und sehr gut lesbare Kölner Habilitation von Jens Ruppenthal. Unter dem Titel "Raubbau und Meerestechnik. Die Rede von der Unerschöpflichkeit der Meere" verknüpft sie Umweltgeschichte und maritime history. Damit liefert sie einen originellen Beitrag zu einer Forschungslücke der deutschsprachigen Forschungsdebatte: Während sich im angloamerikanischen Raum in den letzten Jahrzehnten die Maritime Environmental History herausgebildet hat [1], werden Meere im deutschen Kontext häufig als eine bloße Form von Gewässern erwähnt.
Jens Ruppenthal nimmt die Tradition der amerikanischen Forschung auf, indem er wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Perspektiven auf die Nutzung von Meeresressourcen in das Zentrum stellt. [2] Dazu wertete er das Schriftgut von vier Ministerien (Wirtschaft, Verkehr, Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Forschung und Technologie), des Bundeskanzleramts, Drucksachen und Plenarprotokolle des Bundestags und eine breite Publizistik aus. Um den internationalen Handlungs- und Deutungsrahmen zu erfassen, zog er Akten der EG und der UN hinzu. Äußerst verdienstreich gelingt ihm, diese heterogenen Quellenarten in übergreifenden Fragenkomplexen zu verschmelzen. Zentral sind ihm soziopolitische Wahrnehmungs- und Deutungsvorgänge und nicht Einzelentscheidungen und -initiativen.
Der ausführliche, aber trotzdem prägnante Forschungsüberblick (Kapitel 2) überschreitet den in der Einleitung umrissenen Bereich der maritimen Umweltgeschichte. Souverän und kenntnisreich stellt Ruppenthal den Forschungsstand zu den Meeren in der Globalgeschichte, in der Kulturgeschichte und in den Debatten um das Anthropozän dar. An der Schnittstelle von Gesellschaft und Umwelt verknüpft er kultur- und umwelthistorische Perspektiven neu: "Eine umwelthistorische Wahrnehmungsgeschichte der Meere muss [...] Meere und Ozeane als Naturräume ernst nehmen. Dabei schließen [sich] die realen Auswirkungen von konkretem menschlichen Handeln im maritimen Raum und meeresbezogene Imaginationen als Untersuchungsgegenstände nicht aus, sondern ergänzen einander vielmehr." (52)
Das dritte Kapitel beginnt mit der Umsetzung des Forschungsprogramms. Es gibt fundierten Einblick in Aspekte der Meeresnutzung im internationalen Seerecht. Im vierten Kapitel steht die Frage im Zentrum, wie sich die Fischerei vom Ideal der Unerschöpflichkeit verabschiedete. Ein thematischer Fokus zeigt exemplarisch, welche innovativen Perspektiven Ruppenthal auf das bekannte Problem der Überfischung wirft: Unter der Überschrift "Zwischen Hering und Hausfrau: 'Raubbau' in der Öffentlichkeit" verbindet er Umwelt- und Kulturgeschichte, Expertenwissen und Medienlandschaft. Die Fischbestände im Nordatlantik waren Mitte des 20. Jahrhunderts überbeansprucht. Im öffentlichen Diskurs setzte sich in dieser Zeit die Rede vom Raubbau durch. So neu war dieser Begriff aber gar nicht, wie die zeitgenössisch langsam beginnende Sensibilität für die Überfischung des Atlantiks vermuten ließe. Er war vielmehr schon mit der intensiven Befischung seit Ende des 19. Jahrhunderts verbunden. Ruppenthal wählt nun die longue durée des "Raubbaus" als Zugang zu öffentlichen Debatten und Praxen der Meeresnutzung. Fischereibiologen markierten Fische und setzten eine Prämie aus, die der Endverbraucher erhielt, wenn er den Fisch zurücksandte. Damit erhofften sie sich, Einblick in die Wanderwege der Tiere zu erhalten. Im Kern dieser Kampagne stand die Hausfrau, die den Fisch zubereitete, und die damit zur stillen Teilhaberin der Fischereiforschung wurde. In Beziehung zum Heim stand in der öffentlichen Debatte die Welt: Meeresressourcen könnten den Welthunger stillen! Um zusätzliche Nahrungsquellen zu erschließen, suchte die Bundesforschungsanstalt für Fischerei nach Beständen im Pazifik, Südatlantik und Indischen Ozean. In den 1970er-Jahren schließlich verknüpften sich Lokales und Globales. Der "Raubbau in der See" so der Spiegel im Jahr 1975, sei eine "Bedrohung der Nahrungsmittelreserven" der Erde. Der nordatlantische Hering wurde zum Symbol der Überfischung, geriet in das Zentrum von Konflikten und dringender Schutzmaßnahmen.
Das fünfte Kapitel zum Meeresbergbau steht unter der Perspektive der Machbarkeit. Das Meer zählte zusammen mit dem Weltall zu einem der letzten, unerschlossenen Gebieten der Welt. Am Meer entzündeten sich deshalb Vorstellungswelten des science fiction. Im Jahr 1962 verfasste die Deutsche Forschungsgemeinschaft eine "Denkschrift zur Lage der Meeresforschung" (1962). Ruppenthal vollzieht im Kapitel "Machbarkeit und Forschungspolitik" den Wandel der Meeresgeologie von der Grundlagen- zur Großforschung nach. In Gegenüberstellung von Raumfahrtforschung und Meeresforschung, erschien der Meeresbergbau als Notwendigkeit, dem Kurzküstenstaat Deutschland durch immensen technischen Aufwand Rohstoffe zu erschließen. Im Zentrum der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit standen Manganknollen. An diesem Beispiel zeigt Ruppenthal die Diskrepanz zwischen Rhetorik und Praxis. In den 1960er-Jahren entfaltete sich eine Publikationslawine zum Thema Manganknollen, die - wie im Fall der Fischerei - utopistische Züge trug, terrestrische Ressourcenengpässe aus dem Meer zu kompensieren. Verfahren wurden getestet, Rohstoffvorkommen ausgekundschaftet, und die Offshore-Förderung von Öl forciert. Trotz Pilotversuchen und öffentlichkeitswirksamer Kampagnen verschwanden "die deutschen Pläne für den Meeresbergbau" in den 1980er-Jahren "in der Schublade" (252). Die großen Hoffnungen scheiterten an Machbarkeiten in politisch-rechtlicher und ökonomischer Hinsicht. Erst im Zug der steigenden Rohstoffpreise im Jahr 2010 trat der Meeresbergbau wieder als Option hervor, die nun jedoch mit enormen ökologischen Bedenken behaftet war. Ein zusammenfassendes Fazit mit Ausblick rundet das gelungene Werk im sechsten Kapitel ab.
Was sagt den Lesern und Leserinnen dieses Buch, das nur auf den ersten Blick aus einem spezialisierten historischen Fachbereich zu kommen scheint? Zunächst vermittelt die Lektüre einen exzellenten Einblick in ein bislang kaum beforschtes umwelthistorisches Thema. Kulturhistorisch Interessierte erleben eine erhellende Lektion, wie Imagination und Materialität sich gegenseitig bedingen und begrenzen. Für die Politikgeschichte sind Fischerei und Meeresbergbau Paradebeispiele eines erweiterten Verständnisses von politischem Handeln, das Akteure wie Medienvertreter, Wissenschaftler, aber auch die lebende und nicht-lebende Natur miteinbezieht. Diese Fäden verdichten sich in einem (subtil bleibenden) Kernnarrativ: Ruppenthal erzählt ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte aus neuartiger Perspektive. Der Blick vom Meer auf Deutschland verortet das Land inmitten des Weltraums "Ozean" und seiner Ressourcen, die in ihrer Materialität und ihrem publizistischen Charisma zu einer wichtigen Konstante bundesrepublikanischer Globalität wurden. Offen bleibt die Frage, ob und wie in der Deutschen Demokratischen Republik mit diesen Themen umgegangen worden ist. Damit lässt der Band Raum für weitere (vergleichende) Forschungsarbeiten, denen Ruppenthal methodologisch den Weg bereitete.
Anmerkungen:
[1] Michael Chiarappa / Matthew McKenzie: New Directions in Marine Environmental History, in: Environmental History 18 (2013), Nr. 1.
[2] Carmel Finley: All the Boats on the Ocean. How Government Subsidies led to Global Overfishing, Chicago 2017; Jeffrey W. Bolster: The Mortal Sea. Fishing the Atlantic in the Age of Sail, Cambridge, MA 2012; Helen M. Rozwadowski: Vast Expanses. A History of the Oceans, Chicago 2018.
Franziska Torma