Bettina Bannasch / Hans-Joachim Hahn (Hgg.): Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust (= Poetik, Exegese und Narrative. Studien zur jüdischen Literatur und Kunst; Bd. 10), Göttingen: V&R unipress 2018, 528 S., 55 Farbabb., ISBN 978-3-8471-0834-4, EUR 70,00
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Fast 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind die Zugänge, Perspektiven und Erinnerungen zum Holocaust innerhalb und außerhalb populärer Erinnerungskulturen, -medien und -praktiken multipler denn je. Der Ende des Jahres 2018 erschienene und von der Literaturwissenschaftlerin Bettina Bannasch und dem Literaturwissenschaftler Hans-Joachim Hahn herausgegebene Band ist diesem Umstand verpflichtet und versucht die Vielfalt der transmedialen Überlieferungen des Holocaust analytisch zu fassen. Der Titel ist aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die im Wintersemester 2014 / 15 an der Universität Augsburg gehalten worden ist (25). Das hochgesteckte Ziel des Bandes ist nicht weniger als eine "Bestandsaufnahme von Positionsbestimmungen, die sich im Kontext der aktuellen Verschiebungen des Holocaustdiskurses von Formen der Darstellung zu Formen der Vermittlung beobachten lassen" (17) zwischen zwei Buchdeckeln zu präsentieren. Erreicht werden soll dies, indem in drei Sektionen "unterschiedlich[e] Formationen des Holocaustdiskurses in ihren Gattungsspezifika, ihren medialen Bedingungen und ihren historischen, pädagogischen und politischen Kontexten" (17) beleuchtet werden.
Der Band gliedert sich in drei Teile: Während die Beiträge zur Sektion I "Gattungen und Genres - Literarische Formen der Darstellung" Literatur im engeren Sinne als Medium der Erzählung über den Holocaust fokussieren, widmen sich jene der Sektion II "Sichtbarkeit und Evidenz - Der Holocaust im Bild" stärker visuellen Medien. Der dritte Teil "Bildungsangebote, pluralisierte Gedächtnisse und individuelle Aneignungen - Gedenkstätten und Erinnerungsorte" beschreibt Darstellungsformen des Holocaust an materialen und digitalen Lern- und Erinnerungsorten, auch wenn die Analyse von einflussreichen und die Erinnerung prägenden digitalen Formationen transnationaler Holocaustdiskurse [1] insgesamt leider nur marginal beleuchtet werden.
Die Sektion I beginnt mit einem Beitrag von Mona Körte, der frühe Prosastücke von Holocaustüberlebenden untersucht und dabei den Aspekt der Unintegrierbarkeit der Lagererlebnisse in den Mittelpunkt stellt. Die sprachliche Analyse von Körte legt evident das "äußerst radikale Verhältnis zum Unverständlichen" (48) dieser frühen Prosa offen. Die singuläre Monstrosität des Holocaust macht ebenfalls Jan Süselbeck als das prägende Element von autobiografischen Erinnerungen aus. Am Ende seiner Untersuchung der Autobiografien von Ruth Klüger und Otto Dov Kulka kommt Süselbeck zu dem nachvollziehbaren Schluss, dass der Holocaust als das zentrale Thema dieser Werke katalysatorisch ein generelles Gattungsproblem des Genres Autobiografien offenbart: das Oszillieren zwischen Faktizität und Fiktion.
Gattungsfragen in lyrischer Hinsicht widmet sich Martin A. Hainz, wenn er abermals den inzwischen selbst kanonisierten Diskurs der adornoschen Frage nach der Barbarei der Lyrik nach Auschwitz unter anderem anhand von Gedichten von Nelly Sachs, Hilde Domin, Rose Ausländer, Ilse Aichinger und Robert Schindel textnah analytisch aktualisiert. Die poetische Trias komplementiert Hans-Joachim Hahn mit seiner Untersuchung einer Reihe verschiedener Dramen durch die Geschichte der Bundesrepublik bis in die Gegenwart, die wohltuend vor allem den literarischen Eigenwert der Stücke und weniger den pädagogischen Nutzen in den Vordergrund stellt. Ebenfalls schlüssig setzt sich Anna Zachmann in ihrem Beitrag mit der Form der Groteske in Holocaustdarstellungen am Beispiel ausgewählter Werke Edgar Hilsenraths auseinander. Zachmann bewertet die Wiederentdeckung dessen Werke und die Annäherung jüngerer Autoren und Autorinnen an komische Shoahliteratur als Beleg für eine "Renaissance", die eine solche "Thematisierung der Shoah mittels Komik und Groteske seit den 1990er-Jahren [...] erfährt" (140). Ob man allerdings, wie von der Autorin behauptet, daraus tatsächlich den gesellschaftlichen Konsens ableitet kann, der Holocaust wäre "mit Satire und Groteske, Gefühlsbetonung und Pathos adäquat darstellbar" (140), darf bezweifelt werden.
Mit Romanen aus der Perspektive von Tätern von den Autoren Jonathan Littell, Martin Amis und der Autorin Elfriede Jelinek befasst sich Dominique Hipp einleuchtend mittels sozial-, politik- und geschichtswissenschaftlichen Zugängen. Hipp kommt zu dem Ergebnis, dass die literarischen Antworten auf die Frage nach der Verfasstheit von Täterpersönlichkeiten überwiegend nicht in "markant[e] und schnell zugänglich[e] Begrifflichkeiten wie 'normal' oder 'pathologisch'" (165) verfallen, sondern in Teilen differenzierte Perspektiven eröffnen. Den Abschluss der Sektion I bildet Holger Zimmermanns pädagogisch-didaktischer Blick auf Kinder- und Jugendliteratur zum Holocaust, der einen lesenswerten literaturhistorischen Abriss des Genres bietet.
Im ersten Beitrag der Sektion II widmet sich Hans Krischitz Spiegelmanns populärem Graphic Novel 'Maus'. Die Analyse des Bild-Text-Verhältnisses ist ebenso differenziert wie stimmig und endet mit einer kritischen Perspektive auf die Einsatzmöglichkeiten im Geschichts- und Deutschunterricht. Ole Prahms Untersuchung von Comics im Themenfeld der Shoa stellt anschaulich und überzeugend das Erscheinen der Figur des Golems ins Zentrum und ermöglicht auf diese Weise eine neue Perspektive auf das Genre, über die er glaubhaft eine tiefe Verwurzelung in narrativen Traditionen des Judentums offenlegen kann. Eine prägnante Zusammenfassung der Geschichte der fotografischen Perspektiven auf den Holocaust liefert Hildegard Frübis, die in einer erhellenden Analyse der Edition des Lili-Jacob-Albums endet. Bewegten Bildern widmet sich der Beitrag von Manuel Köppen, der die Erzählung der Judenverfolgung im frühen Nachkriegsfilm beleuchtet. In einer deutsch-deutschen Perspektive zeigt Köppen stringent die narrativen und diskursiven Verstrickungen und Brüche mit den jeweils dominanten erinnerungspolitischen Paradigmen auf. Bettina Bannaschs Beitrag fragt ausgehend von Chomskys populärer Miniserie 'Holocaust' nach ethischen Grenzen der Holocaustdarstellung innerhalb und außerhalb pädagogischer Vermittlungsprozesse und bindet ihre Überlegungen triftig an Fragen der Pädagogisierung, Kommerzialisierung und Konsumierbarkeit des Holocaust rück. Produktiv und erkenntnisreich ergründet Kathrin Hoffmann-Curtius Darstellungen der Shoa in der bildenden Kunst und bezieht dabei versiert fotografische Bildikonen der Holocaustdarstellung in ihre Analyse ein.
Die Sektion III verlässt endgültig das Feld der Literaturwissenschaft und widmet sich gänzlich der Public History in historischen und gegenwärtigen Perspektiven. Der Beitrag von Olaf Kistenmacher analysiert anschaulich Wandlungsprozesse in deutschen Erinnerungskulturen seit 1990 und demonstriert plausibel anhand von geschichtspolitischen Konflikten um die Gedenkstätte Neuengamme, dass Gedenken und Erinnerung permanent in gesellschaftspolitischen Diskursen ausgehandelt werden müssen. Christine Gundermann fasst in ihrem Beitrag lesenswert und an die Forschung rückgebunden die Geschichte der Erinnerung an Anne Frank in einer transnationalen Perspektive zusammen. Als innovativ kann der Zugang von Edith Raim beschrieben werden, gescheiterte Gedenkinitiativen, wie die in Landsberg am Lech und dem benachbarten Kaufering, in den Mittelpunkt ihres Beitrages zu rücken. Ebenfalls als gelungene kann das Konzept für die KZ-Gedenkstätte Dachau von Christina Ulbrich bezeichnet werden, das Erinnerungen von Überlebenden in ein pädagogisches Programm des außerschulischen Lernens integriert, auch wenn die Präsentation von Zeitzeugenberichten am historischen Ort zu den didaktischen Standards gehört. [2] Abschließend legt Tobias von Borcke fundiert dar, wie die Perspektive der Opfergruppe der Sinti und Roma in die Gedenkstättenarbeit integriert werden kann.
Das Ziel, eine "Bestandsaufnahme von Positionsbestimmungen" (17) zu aktuellen Verschiebungen des Holocaustdiskurses von Formen der Darstellung zu Formen der Vermittlung in einem Sammelband präsentieren zu wollen, dürfte grundsätzlich kaum einlösbar sein. Aber es gelingt der Herausgeberin Bettina Bannasch und dem Herausgeber Hans-Joachim Hahn überzeugend, ein Kaleidoskop verschiedenster Perspektiven auf gegenwärtige Reflexionen des Holocaust in unterschiedlichen Medien und aus verschiedenen fachlichen Perspektiven konzeptionell schlüssig und inhaltlich ausgewogen zu präsentieren. Auch wenn die verschiedenen Positionsbestimmungen mitunter etwas unvermittelt nebeneinanderstehen, so ergibt sich in der Gesamtschau eine aufschlussreiche Zusammenstellung, die neue Impulse setzen kann.
Anmerkungen:
[1] Gerd Sebald / Marie-Kristin Döbler (Hgg.): (Digitale) Medien und soziale Gedächtnisse. Wiesbaden 2018; Hannes Burkhardt: Mythosmaschine Twitter? Fakten und Fiktionen im Social Web zu Rudolf Heß und der Bombardierung Dresdens 1945, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17 (2018), 42-56.
[2] Christian Kuchler: Historische Orte im Geschichtsunterricht, Schwalbach am Taunus 2012, 44-45.
Hannes Burkhardt