Uwe Danker / Sebastian Lehmann-Himmel: Landespolitik mit Vergangenheit. Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität in der schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive nach 1945, Husum: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft 2017, 608 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-89876-857-3, EUR 49,95
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Obwohl in den letzten Jahren viele Aufarbeitungsstudien erschienen sind, vermag die Studie von Uwe Danker und Sebastian Lehmann-Himmel über personelle und strukturelle Kontinuitäten in Schleswig-Holstein nach 1945 in vielerlei Hinsicht zu überzeugen. Auch gehören Landesparlamente noch nicht lange zum Repertoire der sogenannten Aufarbeitungsforschung. So haben andere Bundesländer noch keine derart detaillierten Studien in Auftrag gegeben [1]. Über das fast 400 Personen zählende Sample des schleswig-holsteinischen Projekts liegt bisher keine Untersuchung vor. Den größten Teil des Buches nimmt die titelgebende Studie ein, während in der "Anfügung II" (ab 450) außerdem ein Kommunalpolitiker, die Justizpersonalpolitik und die Wiedergutmachungspolitik Schleswig-Holsteins in kürzeren Aufsätzen von weiteren Autoren gewürdigt werden. Die vorliegende Rezension konzentriert sich auf die Hauptstudie von Danker und Lehmann-Himmel.
Das Erkenntnisinteresse der Autoren zielt einerseits auf die Rollen und Rollenwechsel der schleswig-holsteinischen Parlamentarier und Regierungsmitglieder in der NS-Zeit und danach ab. Andererseits gehen sie den vergangenheitspolitischen Debatten in Schleswig-Holstein bis in die 1990er Jahre nach. Der Fokus liegt auf der Korrelation zwischen etwaigen Belastungen beziehungsweise Verfolgungserfahrungen und vergangenheitspolitischem Handeln.
Der ca. 300 Seiten umfassende Hauptteil des Buches bietet einen zweigeteilten Überblick über die Landtagsabgeordneten und Regierungsmittglieder anhand formaler und materieller Kriterien. Auch die Merkmale "Verfolgung" und "Distanzierung" werden hier aufgegriffen. In einem ersten Schritt werden die üblichen formalen Daten der Politikerinnen und Politiker bis einschließlich Jahrgang 1928 ausgewertet (etwa Mitgliedschaften, Alterskohorten und Fraktionszugehörigkeit). Dieser 90 Seiten starke erste Teil wirkt in Anbetracht der begrenzten Aussagekraft von formalen Mitgliedschaften zu ausführlich. In einem weiteren Schritt zeugen die dargestellten realen Profile hingegen von einem beeindruckenden Kategorienreichtum, der trotz 18 möglicher Orientierungs- beziehungsweise Verhaltensmuster nicht unübersichtlich ist, denn sie gehören jeweils einer der vier Grundkategorien an ("18 plus vier NS-'Typen'", ab 221). Deren Verteilung wird abermals statistisch ausgewertet und in zahlreichen Diagrammen mit den vorher vorgestellten Daten in Beziehung gesetzt. Bereits die Grundkategorien "oppositionell / gemeinschaftsfremd", "angepasst / ambivalent", "systemtragend / karrieristisch" und "exponiert / nationalsozialistisch" (174-177) sowie deren feinere Unterteilungen machen eine Fülle möglicher Handlungen im Nationalsozialismus sichtbar. Überdies helfen sie, plausible Unterscheidungen zwischen Funktionseliten und "'richtigen' Nationalsozialisten" (177) zu treffen. Dazu kommen unter anderem die "NS-Sozialisierten" (178), die zwischen 1918 und 1928 geboren wurden. Diese Gruppierung konterkariert die zuvor vorgenommene inhaltliche Kategorisierung. Die Schwierigkeiten, Schüler, Angehörige der Hitler-Jugend und Studenten in die vier Grundorientierungen einzupassen, machen sie aber verständlich.
Bemerkenswert ist, dass das Parlament und die Exekutive in vergleichender Absicht untersucht werden. Damit können die Autoren die angenommene stärkere Staatsnähe von Exekutivmitgliedern belegen. Die Ergebnisse der ersten beiden Schritte bezeugen zudem die "Zäsur von 1950" (375) im schleswig-holsteinischen Landesparlament: Bis dahin war die Zahl der Mandats- und Amtsträger mit Verfolgungshintergrund deutlich höher als in den Jahren danach.
Im dritten Schritt werden die vergangenheitspolitischen Debatten im Landtag analysiert ("Erste Folgerungen: Landespolitik als Vergangenheitspolitik", ab 295). Hier erörtern die Autoren konkret die Verbindung zwischen den Rollen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Im Zentrum steht die Frage danach, ob die Ergebnisse der ersten beiden Untersuchungsschritte einen Erkenntnisfortschritt in Bezug auf das Verhalten in vergangenheitspolitischen Debatten liefern. Letztere werden nachgezeichnet und angemessen in ihren historischen Kontext eingebettet. Es zeigt sich deutlich, dass in den allermeisten Fällen nicht die eigene Erfahrung im Nationalsozialismus, sondern der jeweils historisch-parteipolitische Kontext die Debatten beherrschte.
Die Autoren dokumentieren ihr Vorgehen äußerst transparent. So erklären sie in "Teil I. Projektanlage" (ab 19) ausführlich das quantitativ-qualitative Design sowie das zugehörige technische Hilfsmittel, eine eigens für das Forschungsprojekt angelegte Datenbank. Aus diesem mit 50 Seiten recht langen Teil des Buches werden einige Aspekte in späteren Kapiteln wiederholt. So ergibt sich etwa aus "Teil IV" ("Ergebnisse: Der Fall Schleswig-Holstein", ab 371), der nicht nur die Ergebnisse, sondern auch Anlage und Methode zusammenfasst, eine gewisse - durchaus nützliche - Dopplung. Irritierend ist der moralisierende Unterton mancher Ausführungen, der zum sachgerechten Umgang mit den Erkenntnissen über Mitgliedschaften mahnt (zum Beispiel 27). Der Auswertungsteil präsentiert die Ergebnisse nicht nur in Schriftform, sondern auch in zahlreichen Diagrammen. Diese erhöhen zwar die Transparenz, erschweren aber bisweilen das Lesen, weil Leserinnen und Leser recht lange auf ihre Beschreibung und Interpretation warten müssen. Der hohe dokumentarische Wert und die sorgfältige Erläuterung des Vorgehens ist einerseits ein Vorteil, besonders für den wissenschaftlichen Nachwuchs und Vertreter anderer Disziplinen. Andererseits stören die Überladung mit methodischen Details und repetitive Elemente den Lesefluss. Vorteilhaft ist wiederum, dass nur einzelne Teile gelesen werden können, ohne vor- oder zurückzublättern.
Insgesamt ist es beachtenswert, dass die Autoren die Legislative und Exekutive systematisch und in vergleichender Perspektive untersuchen. Auch die umfangreiche Typologie von Handlungsmustern im Nationalsozialismus bedeutet einen Gewinn für die "Aufarbeitungsforschung". Dass sie darüber hinaus die Bedeutung von Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus für das politische Handeln nach 1945 thematisieren, macht die eigentliche Stärke des Buches aus. Denn von einem monokausalen Zusammenhang zwischen dem Handeln während der NS-Zeit und nach 1945 kann keine Rede sein. Anstelle einer einfachen Antwort muss man sich hier mit der komplizierten und vielschichtigen Realität uneindeutiger Profile, Rollen und Motive zufriedengeben. Diese Frage überhaupt in dieser Form zu stellen, zu bearbeiten und zu beantworten suchen, macht die Studie von Danker und Lehmann-Himmel zu einem richtungsweisenden Buch. Sie unterstreicht die Notwendigkeit weiterer Forschungen zur Demokratisierung in der Bundesrepublik.
Anmerkung:
[1] Bisher untersucht sind die Landesparlamente von Niedersachsen, Hessen, Bremen und das Saarland, vgl. Stephan Alexander Glienke: Die NS-Vergangenheit späterer niedersächsischer Landtagsabgeordneter. Abschlussbericht zu einem Projekt der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen im Auftrag des Niedersächsischen Landtages, Hannover 2012; Albrecht Kirschner: Abschlussbericht der Arbeitsgruppe zur Vorstudie "NS-Vergangenheit ehemaliger hessischer Landtagsabgeordneter" der Kommission des Hessischen Landtags für das Forschungsvorhaben "Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen", Wiesbaden 2012; Karl-Ludwig Sommer: Die NS-Vergangenheit früherer Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft. Projektstudie und wissenschaftliches Colloquium, Bremen 2014. Hans-Peter Klausch: Braune Spuren im Saar-Landtag. Die NS-Vergangenheit saarländischer Abgeordneter, Saarbrücken 2013.
Ana Lena Werner