Martin Knoll / Uwe Lübken / Dieter Schott (eds.): Rivers Lost, Rivers Regained. Rethinking City-River Relations, Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press 2017, IX + 413 S., 54 s/w-Abb., ISBN 978-0-8229-4459-1, USD 45,95
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Geschichten von Entfremdung und Wiederannäherung stehen im Zentrum dieses Bandes, dessen Beiträge einerseits aus einer Sektion der European Conference on Urban History 2012 in Prag, andererseits aus einer Tagung des Rachel Carson Centers in München im Februar 2013 entstanden sind. Die beiden Konferenzen führten Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen (Geschichtswissenschaft, Architektur, Literaturwissenschaft, Stadtplanung) zusammen. Die wechselseitige Beziehung und Koevolution von Städten und ihren Flüssen bildet dabei das Erkenntnisinteresse der Herausgeber. Dies geschieht mit einer globalgeschichtlichen Perspektivierung, neben europäischen (München, Hamburg, London, Paris, Nantes, Straßburg, Mainz und Wiesbaden sowie St. Petersburg) werden sowohl nord- und südamerikanische (Chicago, Cleveland, Sherbrooke und Trois-Rivières sowie Bogotá) Städte, als auch Fälle aus Asien (Ganges, Sichuan-Provinz) und Afrika (Fez) behandelt.
Der programmatische Titel gibt dabei die Richtung vor. Die meisten der geschichtswissenschaftlich orientierten Aufsätze (diese sind in der Mehrzahl) erzählen davon, wie einer Stadt-Gesellschaft ein Fluss "verloren" ging. Die Degradierung, Zerstörung und Unsichtbarmachung von stadtnahen Flussläufen als Folge der grundlegenden Prozesse der Moderne, Industrialisierung und Urbanisierung, bilden die Eckpunkte der ersten beiden thematischen Abschnitte des Bandes ("Rivers controlled. Cities and their watersheds" und "Urban rivers transformed and lost"). So zeigt Stephane Castonguay illustrativ am Beispiel der kanadischen Flüsse St. François und Saint-Maurice, beide Zubringer des Sankt-Lorenz-Stroms, wie diese, ausgehend von zwei Anrainer-Städten, als Transport- und Versorgungskanäle "industrialisiert" wurden. Zugleich sei die Flusslandschaft im städtischen Hinterland "urbanisiert" worden - eine Transformation, deren Folge letztlich eine Entfremdung der Städte und ihrer Bewohner von den Flüssen gewesen sei.
Betont wird vielfach die politische Komponente der Flussbegradigungen, etwa von Vanessa Taylor, die am Fall London einen Verlust an kommunalen, lokaldemokratischen Verfügungsrechten über das Wasser des Einzugsgebietes der Themse nachzeichnet. Zuweilen geschieht die Schilderung dieser Prozesse mit gehöriger Empörung und spürbarem Entsetzen über das Vorgehen der federführenden Experten, Ingenieure und Stadtplaner; besonders prononciert im Beitrag von Geneviève Massard-Guilbaud, die durchaus eindrucksvoll zeigt, wie es über verschiedenste Planungsentwürfe dazu kam, dass in Nantes die beiden Arme der Loire, die jahrhundertelang der Versorgung und Vernetzung der Stadt dienten, abgeschnitten und zugeschüttet wurden.
Das dritte thematische Kapitel des Buches ("Cultural Dimensions of Urban Rivers") enthält Aufsätze zu Arbeiterliedern aus der chinesischen Provinz Sichuan, zu Reinlichkeits- und Unreinheitsvorstellungen in Bezug auf den Ganges im 19. Jahrhundert, zu London als Ökosystem in Charles Dickens' Roman Our Mutual Friend sowie zum Jahreslauf der flussbezogenen Praktiken an der Newa im zaristischen St. Petersburg. Naturgemäß lässt eine derartige Disparität die Vergleichbarkeit und Einordnung der Beiträge als schwierig erscheinen. Ob man etwa Charles Dickens ein hohes Verständnis ökologischer Zusammenhänge attestieren kann, vermag ich nicht zu entscheiden.
Durch die Themen des vierten und letzten Abschnitts ("Rivers Regained") findet wieder eine engere Anknüpfung an den Zuschnitt der ersten beiden Kapitel statt. Die Autoren attestieren dabei einen Bewusstseinswandel ab den 1970er-Jahren, der zu Maßnahmen der Freilegung und Teilrenaturierung von Flussläufen inn- und außerhalb der Städte führte. Als Musterbeispiel präsentieren in diesem Zusammenhang Nico Döring und Georg Jochum die Umgestaltung der Isar in München im Zuge des sogenannten Isar-Plans, der einen Erholungsraum geschaffen, die emotionale Bindung der Münchner zu ihrem Fluss wiederhergestellt und den Weg zu einem neuen "ökosoziotechnischen System" gebahnt habe. Verstanden wird die Tendenz zum Rückbau der Flussbegradigungsmaßnahmen der Hochmoderne als Wiederaneignung ("reappropriation") der Flusslandschaften durch die städtischen Communities.
Viele der Beiträge nehmen einen sehr weiten Zeitraum in den Blick, der mehrere politische Umbrüche umfasst, teilweise vom 18. bis ins 21. Jahrhundert. Vereinzelt wird die Tendenz sichtbar, vormoderne urbane Zustände im Sinne einer engen und gesunden Mensch-Umwelt-Beziehung ein wenig zu idealisieren. Andererseits öffnet dieser Zuschnitt gerade den Blick für längerfristige Entwicklungen und Paradigmenwechsel. Besonders für die Umweltgeschichte städtischer Lebensräume erscheint die Perspektive der longue durée als erkenntnisfördernd. Hier reiht sich das vorliegende Werk in ein aktuell florierendes Feld der stadtgeschichtlichen Forschung ein, das gerade über die Erforschung der Stadt-Fluss-Beziehungen Umwelt- und vergleichende Stadtgeschichte verbindet.
Eine weitere Leistung des Sammelbandes liegt neben seiner beispielhaften Interdisziplinarität in der Sichtbarmachung der sozialen Komponente flussbaulicher Maßnahmen. Nicht nur die Studie zu Bogotá zeigt, wie die Flusstopografie vielfach mit einer stratifizierten Sozialtopografie verbunden war, wenn beispielsweise die Slum-Viertel der kolumbianischen Metropole in den Überschwemmungsbieten des Rio Tunjuelo entstanden. Gerade über jene Sichtbarmachung sozialräumlicher Zusammenhänge bzw. Diskurse und Vorstellungen wird auch die Aufnahme der auf die kulturellen Repräsentationen der Flüsse fokussierten Beiträge sinnfällig.
Diese soziale Dimension führt zur Frage nach den Akteuren. Wer hat denn die Flüsse verloren und sich schließlich wiederangeeignet? Hier mag eine gewisse Schwierigkeit in der Zuordnung liegen. Wem geht denn der Fluss jeweils verloren? Wer ist das Subjekt der Entfremdung und Wiederaneignung? Besteht hier nicht eigentlich eine gewisse Identität; war es nicht eher ein Weggeben, weniger ein Wegnehmen? Die städtische Bürgergesellschaft war in Bezug auf die Flüsse der eigene Expropriateur und konnte dadurch zum Befreier werden. Rivers Squandered.
Insgesamt bietet der vorliegende Band ein imposantes Panorama an Fallstudien zur Umweltgeschichte urbaner Flussläufe. Ob der insgesamt positive Ausblick auf nun wiedergewonnene Flussläufe und einen entsprechenden Bewusstseinswandel urbaner Akteure berechtigt ist, wird sich in zukünftigen Aushandlungsprozessen um die Deutungshoheit über städtische Räume erweisen müssen.
Martin Keßler