Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Herausgegeben und kommentiert von Oliver Matuschek, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2017, 700 S., ISBN 978-3-10-002409-1, EUR 32,00
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"Die Welt von Gestern" zählt zu den bedeutendsten und beliebtesten deutschsprachigen Memorialwerken des 20. Jahrhunderts. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Stefan Zweigs Erinnerungen bemerkenswert häufig und regelmäßig neu aufgelegt. Dass der Autor in ihnen nur sehr wenig Privates preisgibt, hat ihm das Publikum offenbar seit jeher nachgesehen. Viele Leser bewundern das Buch als stilistisch brillantes Epochenportrait, das weniger von prägnanten historischen Analysen lebt als von der unnachahmlichen Gabe Zweigs, den Leser einprägsam und plastisch das subjektiv Erlebte mitfühlen zu lassen. Der Literaturhistoriker Oliver Matuschek hat seine bisherigen Arbeiten über Stefan Zweig [1] nun um eine kommentierte Neuausgabe von "Die Welt von Gestern" ergänzt. Anspruch der Edition ist es, den Text "auf der Grundlage von umfangreichem, teilweise bisher nicht ausgewertetem Quellenmaterial mit einem breiten kulturwissenschaftlichen Ansatz" [2] neu zu erschließen.
Beginnen wir mit dem Positiven: Die größte Stärke der Edition zeigt sich dort, wo Matuschek seine fundierte Kenntnis der Briefe und Tagebücher Zweigs nutzen kann, um dessen Selbststilisierungen offenzulegen. Besonders markant wird dies in der Kommentierung der Textpassagen zum Ersten Weltkrieg deutlich: Plastisch weist Matuschek nach, dass Zweigs Behauptung, gegen die (vermeintlich) allgegenwärtige Kriegsbegeisterung im August 1914 resistent gewesen zu sein, ebenso ins Reich der Legenden gehört, wie die Aussage, sich in keiner Weise für die materialistische Kriegslyrik eingesetzt zu haben: "Um seinem in der Zwischenkriegszeit allseits bekannten Ruf als überzeugter Pazifist auch nachträglich gerecht werden zu können", so Matuschek, musste Zweig "die Tatsachen im Rückblick [...] an vielen Stellen retuschieren" - bis hin zur bewussten "Entstellung" (556). Dieses harte Urteil trifft etwa zu, wenn Zweig den Inhalt seines Artikels "An die Freunde im Fremdland" (1914) und die Reaktion des französischen Pazifisten Romain Rollands darauf verzerrend beschönigt. Nicht minder erhellend ist es, wenn Matuschek Zweigs Bemerkung, nur "wenige Tage" (199) vor dessen Ermordung mit Walther Rathenau durch Berlin gefahren zu sein, als dramatisierende Stilisierung entlarvt: Nüchtern verweist er auf den Umstand, dass sich Zweig vor Rathenaus Tod "zuletzt im November 1921" (533) in der Reichshauptstadt aufgehalten hatte, also etwa sieben Monate vor dem Attentat.
Die Kommentierung zeigt, wie kritisch gerade den Anekdoten Zweigs zu begegnen ist. Die detaillierte Schilderung zweier von ihm angeblich besuchter Wiener Konzerteinspielungen kontrastiert Matuschek mit dem Fakt, dass Zweig sich während der Aufführungen gar nicht in der Stadt aufhielt. Selbst unscheinbare Randnotizen werden durchleuchtet: Zweigs Aussage, 1902 als Student während eines Auslandsemesters in Berlin die Universität nur zweimal aufgesucht zu haben, entkräftet Matuschek unter Verweis auf Zweigs Korrespondenz als "kokette Übertreibung" (506). Der vermeintlich dramatischen Stimmung im Standesamt der englischen Stadt Bath, das Zweig und Charlotte Altmann am 1. September 1939, dem Tag des deutschen Überfalls auf Polen, traute, stellt Matuschek Zweigs Tagebuch entgegen, wonach alles "reibungslos, [...] selbstbeherrscht und sicher" (638) verlief.
Es ist verdienstvoll, dass Matuschek die zahlreichen literatur-, philosophie- und kunstgeschichtlichen Anspielungen und Zitate in "Die Welt von Gestern" systematisch auflöst und herleitet. Auch irrige Verweise deckt die Kommentierung auf - etwa wenn Zweig einen Ausspruch des schottischen Historikers Thomas Carlyle dem US-amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson zurechnet. Wo Zweig den Text für die Drucklegung noch stark redigierte, erfährt der Leser in der Kommentierung, ebenso die Bedeutung aller aus dem heutigen Sprachgebrauch verschwundener Begriffe wie chevaleresk, ärarisch und skabrös. Die Kommentierung erfolgt im Anhang. Dort stehen den Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln jeweils knappe Einführungen voran, in denen Matuschek die Kerninhalte und den Entstehungshintergrund skizziert und auf die Motive bzw. Kalküle verweist, die Zweig bei der Niederschrift seiner Erinnerungen verfolgte.
Es ist nicht der Anspruch Matuscheks, falsche Behauptungen und Vermutungen, die über die Person Zweigs hinausgehen, zu korrigieren. Zu abwegigen Thesen wie jener, vor dem Ersten Weltkrieg seien die Beziehungen zwischen "Tschechen und Deutsche[n], Juden und Christen" in Wien noch frei von "Gehässigkeit" (41) gewesen, schweigen die Kommentare. Wenn Zweig irrig vermutet, der auf Johann Gottfried Herder zurückgehende Begriff "Lebensraum" sei von Karl Haushofer geprägt worden (205), erfolgt keine Richtigstellung. Ebenso wenig erfährt der Leser, aus welchem ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Kontext sich Zweigs Denken speiste und wie sehr dieser, trotz aller Individualität, dem Zeitgeist verwachsen war. Dies gilt auch für problematische Äußerungen Zweigs wie jene, dass das Denken "des jüdischen Menschen [...] bei aller sichtlichen Überlegenheit voll einer tiefen Unruhe und Ungewissheit", ja etwas gewissermaßen "Substanzloses" sei (200).
Bisweilen ist die Kommentierung derart karg, dass von einem echten Mehrwert kaum gesprochen werden kann. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Matuschek für die Erläuterung der Marokkokrise 1911 und der Balkankriege 1912/13 nicht einmal fünf Zeilen aufwendet. Wo Zweig die äußerst rigide österreichische Rechtsprechung gegen Kriegsdienstverweigerer hervorhebt und in Klammern England als Gegenbeispiel nennt, schweigt der Kommentar über das für Zweig Wesentliche: die Situation in der Habsburgermonarchie. Schlicht nichtssagend ist es, wenn Matuschek das zur Zeit der Sozialistengesetze popularisierte, geflügelte Wort von den "vaterlandslosen Gesellen" pauschal als "Bezeichnung zur Abwertung all jener, die das deutsche Kaiserreich in Frage stellten" (555), charakterisiert. Wenn der Herausgeber über Georg von Schönerer vermerkt, Hitler habe diesen als "einen seiner politischen Lehrmeister" (491) betrachtet, so trifft dies allenfalls die halbe Wahrheit [3]. Ungestillt bleibt das Interesse des Lesers, Näheres zu kulturhistorisch interessanten Ausführungen wie jener zu erfahren, im Wien der Jahrhundertwende hätten junge Männer aus Karrieregründen keine Mühen gescheut, älter zu erscheinen als sie tatsächlich waren, etwa durch das Tragen von goldenen Brillen, die sie nicht benötigten, und durch eine gewisse Beleibtheit. Diese Liste ließe sich beliebig erweitern.
Um herauszufinden, zu welchen Textstellen Matuschek Kommentare verfasst hat, muss stets mühevoll auf Verdacht im Anhang nachgeschlagen werden. Kein Zeichen, keine Zahl, keine Formatierung verweist im Quellentext auf die Kommentierung. Auch hat Matuschek in aller Regel darauf verzichtet, den Inhalt seiner Anmerkungen konkret zu belegen - eine bedauerliche Entscheidung, die durch das abschließende, zumal auffallend schmale Literaturverzeichnis nicht kompensiert wird. Versöhnlich wirkt wiederum das instruktive Nachwort mit seiner konzisen Darstellung der Vor- und Entstehungsgeschichte der Memoiren und Zweigs Arbeitsweise. Matuschek zeigt hier zudem, welche Quellen Zweig im brasilianischen Exil zur Verfügung standen, und reflektiert anschaulich, inwieweit sich die schwierigen materiellen Verhältnisse und die prekäre psychologische Verfassung Zweigs in den letzten Monaten seines Lebens auf "Die Welt von Gestern" auswirkten. Ein zuverlässiges Personenregister schließt den Band ab. Insgesamt hat Matuschek eine Edition vorgelegt, die einige Stärken aufweist, zugleich jedoch viel Potenzial ungenutzt lässt.
Anmerkungen:
[1] Neben der Studie "Stefan Zweig. Drei Leben - Eine Biographie" (2006) ist Matuschek als Herausgeber von "Katalog und Geschichte der Autographensammlung Stefan Zweig" (2005) und der Edition "Ich wünschte, dass ich Ihnen ein wenig fehlte. Briefe an Lotte Zweig 1934-1940" (2013) hervorgetreten.
[2] Hier zitiert nach der Inhaltsbeschreibung des Schutzumschlags. Die Edition selbst bleibt eine nähere Erläuterung ihrer Ziele und Richtlinien schuldig.
[3] Tatsächlich war Hitlers Verhältnis zu Schönerer, dem Gründer der österreichischen Alldeutschen Bewegung, sehr ambivalent, wie ein Blick in "Mein Kampf" zeigt. Während Hitler dem Wiener Agitator in ideologischen Fragen durchaus nahestand, warf er ihm gerade in politischen Fragen schwere Versäumnisse vor: Schönerer habe viel zu wenig auf die "breiten Massen" des Volkes geachtet und viel zu stark auf das Bürgertum gesetzt. Vgl. Christian Hartmann u.a. (Hgg.): Hitler. Mein Kampf. Eine kritische Edition, Bd. 1, München 2016, 311.
Thomas Vordermayer