Daniela Wagner / Hanna Wimmer (Hgg.): Heilige. Bücher - Leiber - Orte, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2018, 352 S., 19 Farb-, 92 s/w-Abb., ISBN 978-3-496-01603-8, EUR 79,00
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Insgesamt 23 Autorinnen und Autoren versammeln sich in diesem in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerten Band, um Bruno Reudenbach anlässlich seiner Emeritierung die Ehre zu erweisen. Den Herausgeberinnen, Hamburger Schülerinnen des Geehrten, ist dabei eine Mischung aus wissenschaftlichen Beiträgen gelungen, die in großer Breite verschiedenste Äußerungen des Heiligen in Kunst, Kultur und Literatur vom Mittelalter bis in die Gegenwart beleuchten. Die drei Themenschwerpunkte "Bücher", "Leiber" und "Orte" umreißen dabei die Bereiche, mit denen sich Bruno Reudenbach bislang beschäftigt hat (und dies hoffentlich noch weiter tun wird).
Gewissermaßen außer Konkurrenz beschäftigt sich Hans-Werner Goetz zu Beginn sowohl einleitend als auch grundlegend mit dem Gebrauch der mittellateinischen Begriffe sacer und sanctus (11-41). Goetz kommt zu der Erkenntnis, dass im Rahmen eines "sehr bewussten Begriffsgebrauches" (21) sacer das von Gott Abgeleitete, hier auf Erden auf Gott Verweisende (17), während Gott selbst sanctus ist (16). Für die kunstgeschichtliche Forschung, die eher auf die irdische Sphäre und die dort sichtbaren Ausprägungen von sacer bezogen ist, liefert dieser Beitrag eine grundlegende historische Terminologie.
Im ersten Themenblock "Bücher" könnte die zeitliche und thematische Spanne kaum größer sein. Britta Tanja Dümpelmanns Beobachtungen zu Kasimir Malewitschs "Schwarzem Quadrat" und seiner Schrift "Die gegenstandslose Welt" von 1927 (45-57) folgt Monika E. Müller mit einer Studie zur Ikonografie des Verschlingens des apokalyptischen Buches in Dürers Apokalypse von Burg Karlštejn von 1498 (59-73). Sie lotet dabei unter Bezug auf die künstlerischen Darstellungen des Essens und des Völlerns sowie der damit verbundenen Mimik der Personen zunächst die zugrundeliegenden Konnotationen aus und kommt schließlich darüber zu einer deutlichen Emotionalisierung der Johannes-Apokalypse im Sinne der Gier nach Erkenntnis. Milan Pelcs stellt ein Stifterbild und dessen komplexes Arrangement in einem Missal des Zagreber Bischofs Georg von Topusco aus der Zeit um 1500 vor (75-86), bevor der Hamburger Japanologe Jörg B. Quenzer neue Einblicke in die fernöstliche Hagiografie und deren narrative Qualitäten eröffnet (87-107). Einen Ertrag ihrer umfangreichen Forschung zu den Biblia pauperum stellt Hanna Wimmer anhand eines Exemplars in der British Library (Kings Ms 5, um 1405) vor (109-120). Seine triptychonartige Struktur entsteht durch die zweimalige Faltung jeder Seite, wobei Wimmer überzeugend zeigt, wie die notwendige Öffnung als konzeptrelevantes System aufeinandergelegter, gefalteter Miniaturen angelegt wurde.
Den zweiten Schwerpunkt "Leiber" eröffnet Dieter Blume mit seinen Beobachtungen zu einem San Gennaro-Graffiti in Neapel von Jorit Agoch von 2015, welches er als konsequente Nachfolge eines modernisierten Antlitzes einer 1304/1305 gefertigten Reliquienbüste im Domschatz der Stadt erkennt (123-133). Die Anzüglichkeiten frühneuzeitlicher Zeit beschäftigen Martin Büchsel, der eine obszöne, wenngleich griechische Aufschrift auf Dürers Porträtzeichnung Willibald Pirckheimers neu beleuchtet (135-147). Sein, unter anderem auf Georg Satzingers Vorarbeiten [1] basierendes Ergebnis, in dem obszönen Kommentar eine humanistische Reaktion Pirckheimers auf seine eigene Darstellung zu sehen, erscheint im Kontext erotischer Äußerungen der Zeit. Die Ausstellung "The Physical Self", die 1991 bis 1992 in Rotterdam von Peter Greenaway kuratiert wurde, wählt Uwe Fleckner als Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum "Körper als Kunstwerk" (149-158). Die Präsentation lebender, nackter Körper in Vitrinen dient ihm dabei als Grundlage einer bild-theoretischen Diskussion verschiedener Funktionen. Jeannet Hommers' Beitrag schließt gewissermaßen daran an: Ihr Interesse gilt dem Motiv des Armbrustspanners beim Martyrium des hl. Sebastian um 1500, etwa beim Jüngeren Meister der Hl. Sippe in und aus Köln (159-170). Ihre Beobachtung, dass dieses Motiv seit der Mitte des 15. Jahrhunderts vermehrt im süddeutschen, oberrheinischen und italienischen Raum zu finden ist, kombiniert sie zielsicher mit einer Analyse des Waffengebrauchs und den technischen Neuerungen um 1500. Margit Kern führt den Leser schließlich nach Peru, wobei sie eine hochinteressante Zusammenschau zwei voneinander unabhängiger Kulturgeschichten und -praktiken liefert: die Mumifizierung von Herrscherpersönlichkeiten und deren Darstellungen (171-183). "Neues vom durchbohrten Herzen" (185) - Peter Schmidt gibt eine grundlegende Präzisierung der Objektcharakterisierung der sogenannten "Speerbildchen", aufbauend auf der 2009 erschienenen Studie von Lise de Greef, die er deutlich weiterentwickelt und in Teilen korrigiert. [2] Die Performanz der Objekte greift Silke Tammen in ihrer Vorstellung eines Bilderschuhs der hl. Margarete von Antiochia aus dem 14. Jahrhundert auf (199-213). Ihre ikonografische Analyse des bislang weitgehend unbehandelten Lederschuhs führt schließlich zu einer Funktionsklärung: Der Schuh diente nicht direkt als Reliquiar selbst, sondern war Futteral für ein innen aufbewahrtes Schuhreliquiar. Wie sich die Akte des Sprechens und des Schweigens in einer Person inhaltsvoll verbinden lassen, zeigt Daniela Wagner anhand von Darstellungen des Johannesknaben in der "Heiligen Familie" (215-226). Seine Aufforderung zur Stille erscheint hier als Hinführung des Betrachters zur Andacht, zur Erkenntnis der Göttlichkeit des Kindes.
Das abschließende Thema "Orte" leitet Kristin Böse mit einer überzeugenden Neubewertung der Wandmalereien der Kirche San Julián de los Prados in Oviedo ein (229-241). Es gelingt ihr, das überwiegend aus einem gemalten Rapport von perspektiv dargestellten Architekturen und geschlossenen Vorhängen bestehende Programm sowohl in Bezug zum Betrachter (unteres Register) als auch zum zentral platzierten Kreuz (oberes Register) zu stellen. In einer minutiösen Analyse von Brunelleschis Bau von San Lorenzo in Florenz erweitert Wolfgang Kemp (243-253) vorangegangene Beiträge zum selben Thema. [3] Mit Kemp betritt der Betrachter Brunelleschis Raum und wird zugleich um 90° gedreht, Kemp lenkt - ausgehend von dem überlieferten Vertrag zum Kapellenbau vom 1434 - die Aufmerksamkeit auf die Seitenkapellen und ihre Konstruktion in Bezug zum Gesamtraum, die sich schließlich als baulich-perspektivische Demokratisierung der Privatkapellen durch den Baumeister erweist. Die Jerusalemer Kunsthistorikerin Bianca Kühnel stellt den mit farbig gefassten figürlichen Szenen geschmückten Kenotaph des hl. Vicente und seiner Schwestern im spanischen Ávila vor (255-262). Der Beitrag bietet eine gute Ergänzung zu den bislang bekannten früh- und hochmittelalterlichen Heiligengräbern außerhalb Roms und Jerusalems. Galit Noga-Banai geht den Darstellungen eines 1994 geschaffenen silbernen Vortragekreuzes aus dem Kreuzkloster in Jerusalem mit Blick auf seine Funktion als Zeugnis der loca sancta nach (263-280), bevor Ulrich Rehm anhand eines Walknochenreliefs aus der Zeit um 1120/50 Überlegungen zum mittelalterlichen Symboltransfer aus der Antike vorstellt (281-286). Die Eule und der Kentaur werden hier zu Beispielen für einen bestimmten Kanon antiker Tiersymbolik, die - auch aufgrund erheblicher Synergien - in die christliche Bilderwelt transferiert werden konnten. Die schwierige Quellenlage erschwert im Folgenden die Interpretation der Hauskapelle des Bonner Propstes von Barbara Schellewald (287-297). Sie stellt einen möglichen Bezug auf die loca sancta in Jerusalem zur Diskussion, konkret zum cenaculum auf dem Berg Sion. Mit dem Beitrag des Münsteraner Germanisten Rudolf Suntrup und der Fokussierung auf Durandus von Mende führt die Lektüre in das mittelalterliche Kirchengebäude und dessen zeichenhafte Auslegung (299-309). Der Vorstellung des Rostocker Marienteppichs vom Anfang des 16. Jahrhunderts von Rostislav Tumanov (311-323) folgt schließlich die kroatische Kunsthistorikerin Marina Vicelja-Matijašić mit ihrer Analyse der sogenannten "Mutvoran carvings", einer Reihe von figürlich bearbeiteten Sandsteinreliefs des 12. Jahrhunderts, die sich ikonografisch einer Gruppe von vergleichbaren Darstellungen zuordnen lassen, die bevorzugt an Portalen zu finden waren und sich direkt mit Jes 11,1-9 verbinden lassen (325-334).
Der Band spiegelt in besonderer Weise die Themen wider, die Bruno Reudenbach zeit seines akademischen Lebens fach- wie gattungsübergreifend beschäftigt haben. Der Leser wird an einem roten Faden durch die Beiträge geleitet: Die Benutzung, der Gebrauch, die performativen Funktionen der Objekte und Orte sind nie nur Grundlage einer rein bildwissenschaftlichen Betrachtung, sondern stehen stets in Interaktion mit dem Betrachter, den Benutzern, lassen ihn oder sie teilhaben und teilnehmen. Insofern ist der vorliegende Band ein glänzendes Beispiel für sinnvoll konzipierte Sammelbände, die eine weite und breite und dennoch konzentrierte Sicht auf die Objekte und ihre Kontexte bieten.
Anmerkungen:
[1] Georg Satzinger: Dürers Bildnisse von Willibald Pirckheimer, in: Gerald Kapfhammer et al. (Hgg.): Autorenbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation im Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2007, 229-243.
[2] Lise de Greef: Speerbildchen Featuring the Christ Child in the Wounded Heart, in: Jaarboek van het Koninklijk Museum voor Schone Kunsten (2009), 52-97.
[3] Howard Saalman: San Lorenzo. The 1434 Chapel Project, in: The Burlington Magazine 120 (1978), 361-364.
Anna Pawlik