Christopher Clark: Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2018, 313 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-04830-1, EUR 26,00
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Christopher Clark: Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2018
Christopher Clark: Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2018
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Zeit ist - in historisch-sozialwissenschaftlicher Betrachtung - ein "kulturelles Konstrukt". So wird aus den fundamentalen Beiträgen Reinhart Kosellecks geschlossen werden können, die die internationale Forschung so sehr befruchtet haben. Christopher Clark geht in seiner neuesten Monographie von der ja schon von Fernand Braudel und Marc Bloch geführten Diskussion über die Dimension der Zeit in der Geschichte und in der Praxis der Historiker aus, von Beschleunigungseffekten und -erfahrungen. Zeitbewusstsein und "Historizität", die "Konstitution temporaler Modalitäten" und das "Zeitgefühl" sind Ausgangspunkt und Ansatz dieser Monographie, die das Verhältnis von Zeitlichkeit und Macht(-Politik) in vier ausgewählten Epochen der preußischen bzw. der deutschen Geschichte des 17. bis 20. Jahrhunderts betrachtet. Unter der Metapher einer "Geschichtsmaschine" werden zunächst Monarchie und Politik des Großen Kurfürsten dargestellt, sodann der "Historiker-König" Friedrich II., danach Bismarck als "Steuermann im Strom der Zeit", um sodann die Perspektive auf "die Zeit der Nationalsozialisten" auszuweiten. Ein "Epilog" zieht Summen der Betrachtung.
Der Ansatz, den der Verfasser "episodisch" nennt (232), ist interessant, und doch steht der moderne Ausgangspunkt in einem gewissen Spannungsverhältnis zur empirischen Durchführung. Was ist damit gemeint? Während die Einleitung Aspekte moderner Diskussionen in außerordentlich instruktiver und überzeugender Weise bündelt, gelingt die Anwendung auf die empirischen Exempel bisweilen nur um den Preis des Rückgriffs auf Forschungsstände (und z. T. auch Literaturbestände), über die die Disziplin seit einiger Zeit hinausgelangt ist.
Bleiben wir gleich beim ersten Teil. "Zwei entgegengesetzte Zeitlichkeitsformen" (58) werden für das 17. Jahrhundert vorgestellt im Verhältnis des Kurfürsten Friedrich Wilhelm zu seinen Landständen: Das Element der Dynamik liegt ganz auf der Seite des Fürsten und seiner Amtsträger, die "regionalen Eliten" stehen dagegen, sie sind die "provinziellen (!) Verteidiger" (44 f.) älterer Traditionen und Freiheiten. Das hat die Literatur des Kaiserreichs auch so gesehen, und die Editoren des 19. Jahrhunderts, auf die sich der Verfasser intensiv stützt, haben - wie wir heute wissen - ganz gezielt solche Dokumente aus den Archiven publiziert, die eine solche Interpretation privilegierten. Allerdings hat die neuere Forschung spätestens seit Opgenoorth gezeigt, dass dieser Gegensatz zwischen Fürst und Ständen im 17. Jahrhundert - fast im Sinne parlamentarischer Krisen des 19. Jahrhunderts - entscheidend überzeichnet worden ist, dass hingegen Kooperation die Konfrontation überwog. Der Kurfürst selbst dachte ja eher in Kategorien des 16. Jahrhunderts, wie sein "Politisches Testament" von 1667 zeigt. Nicht er und seine Amtsträger, sondern die Landstände beriefen sich bei Bedarf auf das moderne Naturrecht, in Ostpreußen auf Hugo Grotius. Das sind Befunde, die für die Interpretation von Dynamik und Zeitlichkeit zumal in der Politik des 17. Jahrhunderts auch andere Erklärungen erlaubten. Gerade der Umgang mit politischer Historizität zeigt im Brandenburg-Preußen des 17. Jahrhunderts erstaunliche prinzipielle Defizite, und als schon unter dem nächsten Monarchen, unter Friedrich III., Pufendorfs Werk erschien, wollte man am Hof die Bände wieder einziehen und - wie alle anderen Hofprodukte der Geschichtsschreibung im Brandenburg-Preußen dieser Jahrzehnte - im Archiv öffentlichkeitsfern deponieren. Es sei erwähnt, dass die Zitate, die Clark Pufendorf zuschreibt, durchweg aus einem späteren, 1710 von einem Berliner Schulmann verfassten Abriss stammen, der nicht behauptet hat, die Vorlage übersetzt, vielmehr ihn ausgeschrieben zu haben, lange nach dem Tod des Kurfürsten und dem Jahre 1701, als, wie Clark betont, "sein Sohn in die Reihen der deutschen Könige aufgenommen" worden war (82). - Pufendorf hatte, in schwerem Latein, auch ganz andere historiographische Schwerpunkte gesetzt.
Friedrich II. wird als Geschichtsschreiber seiner Zeit analysiert, auch als eleganter Propagandist seiner selbst; die neuesten Autoren minimieren dabei das Faktum, dass alles, was der König über seine Epoche historiographisch niederlegte, ebenso der zeitgenössischen Öffentlichkeit verborgen bleiben sollte, wie dies für die Produkte der allermeisten Staatshistoriographen im Brandenburg-Preußen des 17. und 18. Jahrhunderts - trotz beachtlicher Manuskripte! - der Fall war.
In der Zeit Friedrichs II. sei an die Stelle der "konfliktbeladenen Sichtweise" der "nach vorne orientierten Geschichtlichkeit des Großen Kurfürsten" diejenige des großen Königs getreten, geprägt von "Stillstand oder [...] Stasis (10). Ob der Monarch "echte Quellenforschung" betrieben hat, das wird bezweifelt werden können, hat er die Urkunden und Akten doch von anderen lesen lassen und eher ein Collageverfahren praktiziert. Die in letzter Zeit so gern behauptete "propagandistische Funktion" (95) seiner Geschichtsschreibung ist bei versiegelten Manuskripten doch eher fraglich. [1] In Friedrichs Historiographie sei die "absolute Autonomie" des Monarchen in einer neuen "Zeitlandschaft" zum Ausdruck gekommen, einem Denken im "temporale[n] Kreislauf des Ruhms". Wird im 17. Jahrhundert der innere Konflikt, etwa mit den regionalen Eliten, überschätzt, so für das 18. Jahrhundert wohl - in königlicher Perspektive? - minimiert. In Johannes Burkhardts Gebhardt-Darstellung [2] ist die neuere Forschung referiert worden, die die Fragilität des friderizianischen Staates zumal in Zeiten großer politischer Belastung aufzeigt, und Friedrich war sich dessen, wie verschiedene Quellen zeigen, Zeit seines Lebens sehr bewusst, und auch der Tatsache, dass ganz neue, unkalkulierbare Erwartungshorizonte drohten.
Die dritte Episode, in der Geschichte und Zeitlichkeit in Beziehung gesetzt werden, ist diejenige Bismarcks, des großen "Schachspielers", für den die Revolution von 1848 dasjenige Ereignis gewesen sei, das sein "Zeitempfinden" zutiefst geprägt habe (165). Diese These wird auf breiter Basis plausibel gemacht, und Gustav Adolf Reins einschlägige Monographie [3] hätte noch weitere Belege geboten. "Die Geschichte, wie er [Bismarck] sie betrachtete, blieb ziellos, aufgewühlt und fließend, jedoch ohne die Zukünftigkeit eines vorausgeahnten Zustands." (178)
"Die Zeit der Nationalsozialisten" wird im vierten Kapitel betrachtet; dabei wird "versucht, das Besondere an der nationalsozialistischen Zeitlichkeit herauszuarbeiten", ohne Bezug auf die älteren preußischen "Episoden". Bis in die Museumspraxis der 1930er Jahre wird der Blick geweitet. Wie in der Französischen Revolution, so sei nun unter dem Hakenkreuz jede "Kontinuität zwischen Gegenwart und aktueller Vergangenheit" geleugnet worden (187), ja, lineare, historische Zeit" generell in Frage gestellt worden, indem die eigene Rassenexistenz in eine unzeitliche, zyklische Existenz eingeschrieben worden sei (208, 214). Diese "Neustrukturierung der Zeitlichkeit" auf "transhistorischer" Basis stand quer zu allen Traditionen, auch zur "Zeitlandschaft" Bismarcks mit ihrer Akzentuierung von Entscheidungssituationen in der Zeit: das "Ende der Geschichte" in einer "tausendjährigen Zeit" (218), ohne Entwicklungs- und Fortschrittsidee. Ob die Nationalsozialisten - jenseits von antiwilhelminischer Filmpropaganda in den Jahren des Krieges - tatsächlich so sehr an den Bismarckmythos angeknüpft haben, ist aber nach den neuesten Forschungen von Christoph Nübel [4] eher fraglich. Beachtenswert ist Clarks Feststellung, dass "die Bücher und Artikel, die Berufshistoriker der NS-Zeit verfassten, wohl der letzte Ort" sind, "an dem wir nach Spuren dieser Manipulationen suchen sollten" (224).
Es ist ein anspruchsvolles Programm, das der Verfasser an vier ausgewählten Exempeln vorführt, und es bringt für das 19. und 20. Jahrhundert auch sehr überzeugende Erträge. Primär steht die Zeitlichkeit der politischen Akteure im Mittelpunkt; das Verhältnis zur historiographischen Produktion der Epochen bleibt eher am Rande, und die Betrachtungen zu den frühesten Phasen basieren - zu Pufendorf ganz ohne Detlef Döring - nicht immer auf der besten Literatur (die nicht immer auch die neueste ist). Aber der Ansatz ist hoch interessant, die einleitenden, methodologischen Passagen Clarks sind imposant. Und es ist gewiss ein gutes Zeichen, wenn gerade an überwiegend preußischem Material weite Fragestellungen erprobt werden.
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu Wolfgang Neugebauer: Quelle als Politikum. Die Anfänge der Friedrich-Editorik in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Jb. für die Geschichte Mittel-und Ostdeutschlands 62 (2016), 191-224, bes. 194 ff.
[2] Johannes Burkhardt: Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763 (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte; 11), Stuttgart 2006, 422.
[3] Gustav Adolf Rein: Die Revolution in der Politik Bismarcks, Göttingen 1957.
[4] Christoph Nübel: Der Bismarck-Mythos in den Reden und Schriften Hitlers: Vergangenheitsbilder und Zukunftsversprechen in der Auseinandersetzung von NSDAP und DNVP bis 1933, in: Historische Zeitschrift 298 (2014), 349-380.
Wolfgang Neugebauer