Frank Henschel: "Das Fluidum der Stadt
". Urbane Lebenswelten in Kassa/ Košice/Kaschau zwischen Sprachenvielfalt und Magyarisierung 1867-1918 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 137), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, VI + 360 S., ISBN 978-3-525-37316-3, EUR 50,00
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Paraskevi Martzavou / Nikolaos Papazarkadas (eds.): Epigraphical Approaches to the Post-Classical Polis. Fourth Century BC to Second Century AD, Oxford: Oxford University Press 2013
Rinse Willet: The Geography of Urbanism in Roman Asia Minor, London / Oakville: Equinox Pub. Ltd. 2020
Werner Hennings / Uwe Horst / Jürgen Kramer (Hgg.): Die Stadt als Bühne. Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2016
Grit Heidemann / Tanja Michalsky (Hgg.): Ordnungen des sozialen Raumes. Die Quartieri, Sestieri und Seggi in den frühneuzeitlichen Städten Italiens, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2012
Sabine Panzram (ed.): The Power of Cities. The Iberian Peninsula from Late Antiquity to the Early Modern Period, Leiden / Boston: Brill 2019
"Kaschau war eine europäische Stadt", führt Frank Henschel mit einem Zitat des dort geborenen ungarischen Schriftstellers Sándor Márai in sein Anliegen ein. Ihr "Fluidum" sei ungarisch gewesen, Dienstboten und andere Zugezogene aus der Umgebung sprachen Slowakisch, "aber in Pantoffeln und Hemdsärmeln, nach dem Abendessen, wechselten auch die Herren zum Deutschen über." Das vorliegende Werk untersucht die Stadt "als Exempel eines vielsprachigen, multikonfessionellen Miteinanders von Einwohnern unterschiedlicher sozialer Schichten unter dem Eindruck nationalistischer Diskurse und Praktiken" (3). Seine Kernfrage ist die "nach einer nationalen Markierung der vielsprachigen, heterogenen Kaschauer Lebenswelten. Wer nahm diese Markierungen vor, wer kämpfte für bestimmte Sprachregelungen und ein 'nationales Image' der Stadt? Mit welchen Kategorien wurde gearbeitet und zu welchen nationalen Deutungsmustern verdichteten sich diese?" (2).
Nach einem Rückblick auf die Stadtgeschichte, einem kurzen Einblick in die sozioökonomischen Verhältnisse und vor allem einer eingehenden Betrachtung wesentlicher Lebenswelten - lokale Politik, Theater, Kultur- und Gesellschaftsvereine, Kirchen, Volksschulen, Wirtschaft und Arbeiterverbände, öffentliche Erinnerungskultur und Identitätspolitik - gelangt Henschel zu dem Schluss, dass das Projekt einer Magyarisierung der Stadt bis 1918 erfolglos geblieben sei. Sie blieb Anliegen des Bürgertums, vor allem des Bildungsbürgertums, in dessen relativ kleinem, "oft persönlich miteinander bekannten, durch bürgerliche Vergemeinschaftungsformen in stetigen Kontakt stehenden" Milieu sie vergleichsweise gut umgesetzt werden konnte (312). Theater, Kultur-. Wissenschafts- und Literaturvereine, die Wirtschaftsverbände der Fabrikanten und Großhändler und die höheren Schulen legen davon Zeugnis ab. In diesem Kontext wie auch bei der Bezeichnung von Straßen und Plätzen oder in der Erinnerungskultur nahm auch die ungarische Sprache eine dominante Stellung ein.
Für andere soziale Gruppen und Lebenswelten sieht der Verfasser jedoch seine These bestätigt, dass die "komplexe Gemengelage [...] das Diffundieren ethno-nationaler Selbstbilder" erschwert habe. "Sie trug dazu bei, nationale Indifferenz zu erhalten und nicht die Konsolidierung ethno-nationaler Kollektive zu befördern" (10, vergleiche 312). Klasse, Beruf, Konfession und Bildung behielten ihre identitätsstiftende Kraft gegenüber nationalen Deutungsangeboten, ohne dass eine dieser Kategorien einen alleingültigen "Fixpunkt des Selbstbildes oder Alltagshandelns" dargestellt habe (313). Als wesentliche Belege verweist der Autor auf fünf Umstände: (1) es entstanden keine "deutschen" oder "slowakischen" nationalen Bewegungen oder auch nur Lobbygruppen, (2) auch das in institutionellen Zusammenhängen Ungarisch sprechende Bürgertum benutzte privat weiterhin die deutsche Sprache (und las die tradierte deutschsprachige Kaschauer Zeitung), (3) entgegen der Deutungsvorgabe der Nationswächter wurde der Sprachgebrauch im Alltags weiter kontextgebunden pragmatisch entschieden, (4) auch in öffentlichen Versammlungen, Kirchen und Schulen konnte auf eine Berücksichtigung der Sprachenvielfalt nicht verzichtet werden, (5) die große Mehrheit der Vereine und Verbände diente politischen, kulturellen, religiösen oder sozialen Anliegen der jeweiligen Zielgruppe und thematisierte keine nationalen Programme.
Konflikte innerhalb der Stadt gingen gewöhnlich auf Interessengegensätze zurück, die aus wirtschaftlichem Umbruch, Modernisierung und Säkularisierung resultierten, selten wurde versucht, sie zu ethnisieren. Versuche zur Aufoktroyierung von Sprachregelungen in bestimmten Fällen (Schule, Gottesdienste) wurden vielfach abgewehrt oder unterlaufen. All dies sei, so Henschel, nicht zuletzt auf den Charakter Kaschaus "als Mittelstadt zurückzuführen. Die Lebenswelten waren hochgradig verdichtet, die entscheidenden Leute kannten sich persönlich, auch über konfessionelle, soziale und Sprachgrenzen hinweg waren Kontakte und Interaktion Alltag." Diese "personalen Beziehungen und Interessengeflechte [...] verhinderten eine Radikalisierung und Verschärfung der Diskurse" (315). Exkludierende Praktiken wurden daher nicht zur Basis städtischen Lebens in Kaschau.
In methodischer Hinsicht plädiert der Verfasser dafür, die Stadt als Agglomeration mehrerer Lebenswelten - im Sinne einer bereichslogischen Abgrenzung innerhalb des städtischen Raumes - zu betrachten. Er greift auf die Fassung des Konzepts durch Rudolf Vierhaus zurück, das er "modifiziert adaptiert" und als "heuristisches Instrument" verwendet. "Lebenswelt bezeichnet hier also einen spezifischen Raum der Alltagspraxis, in dem Individuen und Institutionen Deutungsmuster formulieren, verhandeln und anwenden" (18). Dies erweist sich in der Arbeit grundlegend als produktiv, zumal ein sehr breites Spektrum von Entwicklungen abgedeckt werden muss, zu denen Henschel vielfach nur auf wenige Vorarbeiten zurückgreifen konnte und wofür er eingehend städtische Archivalien ausgewertet hat. So war es naheliegend, sich zur Sozialstruktur auf die lokalen, leider nur als graue Literatur publizierten und daher in Bibliotheken schwer zugänglichen Bibliografien von Michal Potemra und Mária Mihoková zum politischen bzw. wirtschaftlichen Leben aus den Jahren 1983 und 1981 zu stützen. Die Einschätzungen, die beide Autoren dort vorgenommen haben, die Kategorien, die sie verwendet haben, werden freilich, anders als in dem sorgfältigen Überblick zu Nation, Ethnizität und Lebenswelt, hinsichtlich Quellen, Datengrundlage und Begründung nicht weiter offengelegt. Ebenso bleibt unklar, woher die angeführten Zahlen zu einzelnen wirtschaftlichen und sozialstrukturellen Gegebenheiten ursprünglich stammen. Erwerbs- und Lebensverhältnisse der Kaschauer werden leider nur sehr grob auf zwei Seiten skizziert; wie dieses sehr spezifische, untereinander so intensiv vernetzte Bürgertum geformt war, bleibt ebenso vage.
Der Verfasser hat dies trotz seines Interesses an der Verbindung einer "modernen Sozial- und Strukturgeschichte [...] mit kulturhistorischen Fragestellungen" aus seinen Anliegen auch eher ausgeblendet (13, 22). "Insgesamt kann Kaschau im 19. Jahrhundert also als eine bürgerliche, von Handwerk, Handel, Bildung und Kultur geprägte Stadt bezeichnet werden die aber ein sehr differenziertes und im Wandel befindliches soziostrukturelles Gefüge aufwies" (52). Bedauerlich ist, dass Gábor Czochs Forschungen zu Kaschau nur sehr selektiv rezipiert und vor allem seine eingehende Bestandaufnahme zur sozioökonomischen Struktur und sprachlichen Situation der Einwohnerschaft in den 1840er und 1850er Jahren - die Henschels Thesen weitgehend untermauert, aber auch weitere Details geliefert hätte - nicht herangezogen wird. Dies sei gesagt, gerade weil die inspirierende Arbeit zum Weiterdenken anregt.
Mitunter führt die Suche nach ethnisierenden Zuschreibungen zur Überinterpretation von Quellen - die teils ohnehin nur in geringer Menge vorlagen. Die "deutschen" Schuster erweisen sich dann doch als keine "sprachlich segregierte Vereinigung", und von den "ungarischen" Schneidern heißt es, ob "das Attribut 'magyar' in diesem Fall als neutrale Landesbezeichnung oder als ethno-nationale Kategorie genutzt wurde, bleibt unklar", was weitere Erwägungen nach sich zieht (220). "Deutsche" Schneider und Schumacher sind jedoch einfach Handwerker, wie sie, früher in zünftiger Form, seit der Frühen Neuzeit im Unterschied zu "ungarischen" Schneidern beziehungsweise Schustern Ware nach europäischem ("deutschem") Zuschnitt und Muster und nicht nach traditionellem einheimischem, also "ungarischem", herstellten. "Ungarische" Schneider dürften die Kostüme der Nationswächter und die für national konnotierte gesellschaftliche Anlässe hergestellt haben, das gute Geschäft wollten sie sich offensichtlich vermittels der zitierten Zugangsbeschränkung zur Ausbildung nicht nehmen lassen. Zu ihrer Kluft ließen sich jedoch gut bürgerliches Schuhe - oder aber Stiefel vom Stiefelmacher - tragen. Hier hätte ein Blick in die volkskundliche Literatur schnell manches geklärt. Schade, dass die Mentoren nicht dazu geraten haben.
Henschels gut durchdachte und zudem flüssig geschriebene Monografie ist wichtig, weil sie zeigt, wie wenig nationalistische Rhetorik, einschließlich ihrer Erfolgsmeldungen, in Inhalt und Lautstärke zum Gradmesser tatsächlicher Zustände respektive Veränderungen genommen werden kann. Hier wird nicht nur analytisch gefordert, "Nation" und "Nationalismus" nicht als explanans gesellschaftlicher Entwicklungen heranzuziehen, sondern zum explanandum zu machen, es wird anhand eines Einzelfalls auch überzeugend umgesetzt. Zudem wird nicht der Fall einer Metropole herangezogen, sondern der einer mittleren Stadt, im Versuch, moderne Sozial- und Strukturgeschichte und kulturhistorische Fragestellungen zusammenzuführen. Die Arbeit reiht sich damit ein neben Untersuchungen wie die von Elena Babejova und Iris Engemann zu Bratislava, von Sabine Rutar zur Arbeiterschaft Triests oder von Christopher Mick zu Lemberg, von Till van Rahden zu Breslau, Jeremy King und Pieter van Duin zu Budweis oder Ulrike von Hirschhausen zu Riga. Auch zu Kaschau sind derweil neuere slowakische Einzeluntersuchungen erschienen. Nicht zuletzt zeigt Henschels Kaschauer Studie, wie sehr lokale Voraussetzungen, von der Überschneidung von sozialen, konfessionellen und ethnischen Kategorien und Loyalitäten über die starke personelle Vernetzung der vergleichsweise kleinen Oberschicht bis hin zu weichen Faktoren wie den "spezifischen 'Normen und Verbindlichkeiten' des mittelstädtischen Diskurses" (315) diese Gesamtentwicklung geformt haben und wie, auch im Vergleich mit den gerade genannten anderen Fallbeispielen, städtisches Zusammenleben, nationale Bewegungen und konkurrierende Gegenbewegungen jeweils sehr eigene, durchaus unterschiedliche lokale Entwicklungsdynamiken annehmen konnten.
Juliane Brandt