Stefan Brenne: Die Ostraka vom Kerameikos (= Kerameikos; Bd. 20), Wiesbaden: Reichert Verlag 2018, XXVIII + 1366 S., 10071 s/w-Abb., ISBN 978-3-95490-327-6, EUR 220,00
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Die gegenwärtige Forschung zum athenischen Ostrakismos wird von zwei ganz unterschiedlichen Richtungen dominiert: Auf der einen Seite steht die Tendenz, neue Generalthesen zu dieser Institution zu entwickeln, indem einzelne Aspekte des Verfahrens herausgegriffen und anthropologischen Vergleichen zugeführt werden [1], mit durchaus anregenden Gedanken, aber auch einer Tendenz zur methodischen Beliebigkeit. Auf der anderen Seite steht das Bemühen um eine gründliche Sichtung, Ordnung und Kommentierung der zahlreichen Quellen unterschiedlicher Gattungen zum Ostrakismos, vorangetrieben vor allem vom Wiener Testimonien-Projekt. [2] Um Materialerschließung geht es auch im anzuzeigenden Werk, das die bei den deutschen Grabungen im Kerameikos gefundenen Stimmscherben präsentiert. Dabei handelt es sich neben kleineren Gruppen vor allem um die über 8.500 Exemplare des großen Hortfundes, der in den Kampagnen von 1966 und 1969 in einem Altarm des Eridanos gemacht wurde. Teile dieses Materials waren schon zuvor vorgestellt und ausgewertet worden [3], doch erst jetzt, ein halbes Jahrhundert nach dem Fund, liegt die Publikation mit allen relevanten Angaben vor. Gemeinsam mit der bereits 1990 erfolgten Publikation der Ostraka von der Agora [4] stehen damit die unmittelbarsten Zeugnisse zum athenischen Ostrakismos für die Erforschung dieser Institution zur Verfügung.
Beim Durcharbeiten des Werkes entwickelt man ein Verständnis dafür, warum so viel Zeit zwischen Fund und Publikation verstrichen ist. Der Grund liegt nicht allein in den Schwierigkeiten bei der Aufbewahrung und Inventarisierung so großer Materialmengen, sondern vor allem in der Multidimensionalität der Objekte, die entlang von verschiedenen Kriterien sortiert werden müssen; diese Kriterien werden im ersten Band systematisch abgearbeitet. Zunächst erfolgt eine Zusammenstellung nach Fundgruppen (5-44), an deren Ende die historisch bedeutsame Frage der Chronologie erörtert wird: Den großen Hortfund weist Brenne einer einzigen Ostrakophorie zu, und zwar derjenigen von 471 v. Chr. Der Überblick über die Keramik (45-85) belegt die Vielfalt der für den Ostrakismos benutzten Objekte, das Spektrum reicht von Feinkeramik bis zu Bruchstücken von Leitungsrohren. Im Kapitel über Schrift und Sprache (87-122) geht Brenne ausführlich sowohl auf die Qualität der Beschriftung und die damit zusammenhängende Frage nach dem Alphabetisierungsgrad der Schreibenden als auch auf die Verwendung von Eta und Heta und die Nennung von Demotikon und Patronymikon ein. Ein kürzerer, aus historischer Perspektive sehr wichtiger Abschnitt behandelt die Zusätze zu den Namen, das heißt schriftliche Bemerkungen oder figürliche Zeichnungen, die über die möglichen Motive des jeweiligen Ostrakisierenden Aufschluss geben können (123-129). In der umfangreichen Zusammenstellung von Gruppenkatalogen (131-231) berücksichtigt Brenne die Gleichheit von Gefäßen, die Gleichheit von Schreibern und die Gleichheit von Namen. Alle drei Dimensionen müssen berücksichtigt werden, wenn man die Frage diskutieren möchte, ob und auf welche Weise Ostrakophorien von wie auch immer gearteten Interessengruppen beeinflusst werden konnten.
Der erste Band schließt mit einem über 400seitigen Abbildungsteil, der die Profilzeichnungen der Gefäße, vor allem aber sämtliche Ostraka präsentiert, zumeist mit hochwertigen Zeichnungen, bei besonders wichtigen und gut erhaltenen Stücken mit Photographien. Der zweite Band enthält den Katalog aller Ostraka; diese sind zunächst nach Namen sortiert, in zweiter Instanz nach der Form der Namensnennung (Patronymikon und/oder Demotikon), in dritter nach dem Kasus, in vierter nach der Art der Keramik. Die Einträge enthalten die Informationen zu Gefäßtyp, Ton und Maßen, die erhaltenen Buchstaben und knappe, aber sehr präzise Angaben zur Schrift und möglichen Ergänzungen.
Brenne hat ein Mammutwerk vorgelegt, das der Multidimensionalität des Materials gerecht wird und mit großer Sorgfalt erstellt ist. Steile Thesen zum Ostrakismos bringt er nicht vor; er definiert als "das primäre Ziel, weiterführende Untersuchungen zu unterstützen" (XVII), und dieses Ziel hat er in vollem Umfang erreicht. Wer sich für Sprache und Schrift im klassischen Athen interessiert, wird an dieser Publikation nicht vorbeikommen; vor allem aber werden sich alle künftigen Thesen zum Ostrakismos daran messen lassen müssen, ob sie die von Brenne vorgelegten Befunde zu integrieren vermögen. Ein solcher Lackmustest wird Zeit und Mühe kosten, denn die mehrfache Präsentation des Materials in seinen verschiedenen Dimensionen macht die Benutzung des Werkes zu einer langwierigen Angelegenheit. Hier setzt auch der einzige Kritikpunkt an: Gerade wegen der vielen Untersuchungsebenen wäre eine elektronische Datenbank, wie sie derzeit für die Ostraka von der Agora erarbeitet wird, deutlich bequemer zu handhaben. Dies schmälert aber nicht die Leistung Brennes, dem für seine Arbeit der Respekt und der Dank der Fachwelt gebührt.
Anmerkungen:
[1] Zum Beispiel Paul Kosmin: A Phenomenology of Democracy: Ostracism as Political Ritual, Classical Antiquity 34 (2015), 121-162.
[2] Peter Siewert (Hg.): Ostrakismos-Testimonien I, Stuttgart 2002. Der zweite Band zu den hellenistischen und römerzeitlichen Testimonien befindet sich derzeit in Vorbereitung unter der Herausgeberschaft von Herbert Heftner und Vera Hofmann.
[3] Stefan Brenne: Ostrakismos und Prominenz in Athen: attische Bürger des 5. Jh.s auf den Ostraka, Wien 2001 (Tyche; Supplementband 3); siehe auch seinen Beitrag für den in der vorigen Anmerkung genannten Testimonien-Band von 2002.
[4] Mabel L. Lang,:The Athenian Agora XXV: Ostraka, Princeton 1990.
Christian Mann