Mechthild Lindemann / Christoph Johannes Franzen (Bearb.): Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1961 (= Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, CXIX + 2383 S., ISBN 978-3-11-060423-8, EUR 169,95
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Habent sua fata libelli: Bücher haben ihre Schicksale, zumal Editionsreihen. Hier ist es eine aus historisch-politischen Gründen vollzogene Springprozession. Andere westliche Länder hatten einen beträchtlichen Vorsprung in der Edition ihrer Außenamtsakten, als das Auswärtige Amt in Bonn in den späten 1980er-Jahren auf historischen Rat hin eine Edition auf den Weg brachte, die ab 1994 bis heute mit uhrwerkmäßiger Präzision und im Abstand von 30 Jahren jeweils ca. 2000-seitige Jahresbände für die Berichtszeit ab 1963 durch eine neu geschaffene Arbeitsgruppe des Instituts für Zeitgeschichte auf den Weg brachte. Das war der international üblichen Sperrfrist für solche Akten geschuldet und setzte die BRD bis zum im Juni 2019 erschienenen Band für 1988 international schlagartig an die Spitze dieser Entwicklung. Dann besann man sich, dass die BRD schon 1949 mit geringer äußerer Hoheit geschaffen wurde - ein schmalerer Band zur Ergänzung einer früheren (andernorts angesiedelten) Edition Adenauer und die Hohen Kommissare wurde 1997 vorgelegt, weitere Bände bis 1953 folgten (fast) im Jahresrhythmus. Deren Fortsetzung ab 1954 ist jetzt wohl angestrebt. Doch dann besannen sich die Editoren erneut - Springprozession rückwärts; 2010 gab es den Band für 1962, jetzt liegt der für das Vorjahr 1961 vor.
Gerade dieser Band bildet eine schwierige und in Manchem undankbare Aufgabe. Zum einen: eine Generation von Forschern hat schon in sehr vielen Aspekten die Außenbeziehungen erforscht, etliche Dokumente sind in anderen Editionen gedruckt. Das sind überraschend viele "Dokumente zur Deutschland-Politik" (die nur z.T. erneut wiedergegeben werden), aber auch Adenauers Briefe, die es in der Rhöndorfer Edition gibt u.a.m. Zum anderen: das ausgeklügelte Verweissystem der Anmerkungen macht es erforderlich, auf - noch - nicht gedruckte Vorgänge aus den Akten aus der Zeit vor 1961 zurückzugreifen. Wie üblich wird keine Forschungsliteratur genannt - das wäre uferlos. Aber dankenswerterweise wird auf die parallelen, oft schon sehr lange zurückliegenden Editionen der USA, Großbritanniens oder Frankreichs verwiesen. Das ist verdienstvoll, den anderen Editionen war ein solches Verfahren leider fremd. Über die Gründe dieses Rückwärtslaufs zu spekulieren, lohnt sich nicht.
Jedenfalls war 1961 ein sehr wichtiges Jahr. Gleich in seinem Neujahrsempfang machte Chruschtschow Dampf in der Berlinfrage, die in diesem Jahr gelöst werden müsse (No.2 druckt die Bonner Einschätzung, nicht den Bericht des Botschafters in Moskau); Präsident Kennedy trat Ende Januar an und verbreitete als Vertreter der wichtigsten Schutzmacht Sorge (zur Aufweichung westlicher Positionen) wie Hoffnung (nach den letzten als Stagnation empfundenen Jahren Herter / Eisenhower). Sein Gipfeltreffen mit Chruschtschow in Wien am 3. / 4. Juni weckte schlimmste Befürchtungen (ein deutscher Diplomat, der extra für etwaige Auskünfte an die Amerikaner nach Wien gesandt worden war, wurde nicht gebraucht). Was vorher schon recht intensiv gewesen war, wurde nun zum Hauptthema: die Verständigung mit den Alliierten auf allen Ebenen über gegenwärtiges und vor allem künftiges Krisenverhalten. Der Mauerbau am 13. August kam dennoch für die Diplomaten überraschend (die Erwartungen von Staatssekretär Carstens für 1961 - Dok. 183), aber das änderte nichts daran, dass die Befürchtungen über die "eigentliche" Krise: Friedensvertrag mit der DDR, Status Berlins bzw. West-Berlins weitergingen. Adenauer und Außenminister von Brentano (in der neuen Regierung Gerhard Schröder) führten zahlreiche Gespräche mit führenden Politikern vor allem der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Hervorragend sind dabei die Adenauers mit Kennedy und De Gaulle, wobei ansonsten die Gespräche der Regierungschefs und Außenminister untereinander, dann auch mit der Sowjetunion Gegenstand einer "Stille Post" - Berichterstattung der jeweiligen Botschaften waren. Eine hervorragende Quelle für komparative Informationspolitik! Sehr vieles wurde in Paris bei der NATO geplant, General Norstad als eigentliche starke Person und der Generalsekretär Stikker gaben den Ton an. Noch wichtiger waren die Washingtoner Botschaftergespräche, die Außenminister Rusk leitete. Hier wurde die Bundesrepublik (nach einigem Bemühen) gleichberechtigter Partner der drei vormaligen Alliierten gegen Deutschland. Zentral blieb die US-Kampfbereitschaft für ihre eigenen Rechte in Berlin, der sich die BRD anschließen musste. Die Briten galten als größere Wackelkandidaten; de Gaulle stellte sich politisch ganz auf die deutsche Seite, lehnte jedoch alle Verhandlungen ab. Es war aber auch klar, dass die Franzosen (wegen des Algerienkrieges) kaum Truppen zur Verfügung hatten. Erste Überlegungen für einen Gewaltverzicht der BRD auch gegenüber Moskau wurden von der Regierung Adenauer fallengelassen (Dok. 431 u.ö.). Diskussionen über die NATO als dritte oder vierte westliche Atomstreitmacht kamen auf. Grewe in Washington machte gelegentlich eigene Vorschläge (Adenauer zweifelte intern mal, ob er der richtige Mann sei - er wurde im April des nächsten Jahres abgelöst). Chruschtschow suchte den direkten Kontakt zu Botschafter Kroll in Moskau, eine Eigenmächtigkeit, die Adenauer nach dessen Bericht in Bonn letztlich deckte (Dok. 499, 16 S.).
Alle diese Vorgänge sind im Kern bekannt. Aber noch nie habe ich einen so - relativ - monothematischen Band gesehen, noch nie waren so viele Dokumente bislang als geheim oder streng geheim eingestuft und dürften daher ganz überwiegend in dieser Form auch erstmals der Öffentlichkeit zugänglich sein (Allerdings hat Hans-Peter Schwarz die streng geheimen Gesprächsprotokolle Adenauers mit Staatsmännern schon lange auswerten und ausführlich zitieren können). Was sich also aus diesem Band AAPD ergibt, ist ein sehr dichtes Geflecht von politisch-militärischer Contingency-Planung in oft kleinste Details, damit man auf alle Situationen reagieren könne - und zwar schnell. Eine schnelle Reaktion gab es jedoch nach dem Mauerbau nicht. Im Herbst nahmen die Bonner Sorgen vor einer Aufweichung der US-Berlinposition zu; irgendetwas meinte man in Washington der Sowjetunion hinsichtlich des künftigen Berlin-Status bieten zu müssen, was Bonn gar nicht gefiel. Hier ist viel Anlass für detaillierte und international vergleichende Untersuchungen geschaffen.
Darüber hinaus findet sich verdienstvoller Weise noch ein breiter Strauß weiterer Themen, die grob gesagt alle Weltgegenden abdecken, am meisten vielleicht den Nahen Osten und Afrika. Es ging aber auch um Speers Freilassung aus dem Berliner Kriegsverbrechergefängnis (Dok. 7), um den Fall Eichmann (Dok. 70, 88). Der US-Spielfilm "Judgement at Nuremberg" rief in Bonn intern Empörung über angeblich dort vertretene deutsche Kollektivschuld; in Berlin ging Bürgermeister Brandt zur Uraufführung (Dok. 509, 524). Man verhandelte über ein Kulturabkommen mit der Sowjetunion (Dok. 67). Der EWG-Agrarmarkt bereitete Sorgen. Botschafter Duckwitz sah Chancen, in Indien Einfluss zu nehmen - doch bekam er alle Informationen aus Bonn 14 Tage nach den Ereignissen (Dok. 468).
Die Edition hält wie alle bisherigen Bände einen hohen Standard, erschließt in den Anmerkungen eine Fülle weiterer Bezüge und nicht gedruckte Akten, deren Freigabe aber vermerkt wird. Die Namen- und Sachregister sind hervorragend und bieten jeden erwünschten Einstieg in kursorische Benutzung, die wohl am häufigsten sein dürfte. Ältere Bände der Edition werden nach einer Karenzzeit auch online zugänglich.
Einige Wünsche sind schon früher vom Rezensenten kritisch vorgebracht worden:
1. Bei dieser Fonds-Edition AA, angereichert durch die von Adenauer mitgenommenen Akten, sind angeblich sehr wenige Dokumente nicht freigegeben worden. Da der Rezensent sich mehrere Jahre mit hoch klassifizierten Akten beschäftigt hat (BND): Diese zurückgehaltenen Dokumente sollten wenigstens bezeichnet werden.
2. Es gibt einigen Schriftwechsel mit "inneren Ressorts" (Landwirtschaft, Finanzen; Verteidigung: Strauß ist oft selbst dabei), die über die Außenbeziehungen herkömmlicher Art hinausgehen; aber der Verzicht z.B. auf alle Geheimdienstvorgänge (der etwa bei den FRUS später wettgemacht wurde) ist von der Forschungslage her für die frühen Jahre nicht mehr zu vertreten.
3. Zur Gestaltung der Dokumentenüberschriften. Schlechter (internationaler) Tradition zu Folge steht da jeweils, wer wem welches Aktenstück schickt (z.B. von der Zentrale an die Botschaft). Inhaltsärmer geht es kaum. Wenn es eine Aufzeichnung über ein Gespräch für die Akten ist, steht die Person des Aufzeichnenden im Titel. Das sind leere Hülsen. Bei Dolmetscherprotokollen heißt es dann immerhin zusätzlich: "Gespräch des Bundeskanzlers Adenauer mit Staatspräsident de Gaulle" - ein Hinweis auf die Gesprächspartner. Kann man aber nicht auch sonst - zumal wo (wie häufig) im Dok. selbst kein Betreff steht - ein solches Stichwort nicht im Titel jedes Dok. nennen? Das würde Lektüre und Auswertung ungemein erleichtern. Es sei bezweifelt, dass das 81-seitige, vorgeschaltete Dokumentenverzeichnis, wo sich solche Inhalte / Kurzregesten finden, häufig benutzt wird - das könnte man dann ganz fallen lassen.
Jost Dülffer