Henning Börm: Mordende Mitbürger. Stasis und Bürgerkrieg in griechischen Poleis des Hellenismus (= Historia. Einzelschriften; Bd. 258), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2019, 362 S., ISBN 978-3-515-12311-2, EUR 64,00
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Henning Börm hat eine anregende Studie vorgelegt. Obwohl die hellenistischen Quellen nur selten Thukydides' Begriff für Bürgerkrieg, stasis, verwenden, weist Börm überzeugend nach, dass extremistische politische Auseinandersetzungen auch in der post-klassischen Zeit häufig vorgekommen sind. Wie in der vorhergehenden Periode konnten sie im äußersten Fall in Mord oder Vertreibung der politischen Gegner kulminieren. Sie gehören also auf die negative Seite zum Wesen der Polis, auch in der hellenistischen Zeit; ein diesbezüglicher Bruch zwischen der klassischen und hellenistischen Zeit ist, trotz der wesentlich geänderten außenpolitischen Rahmenbedingungen, nicht feststellbar. Auch in dieser Hinsicht herrscht Kontinuität. Börm verwendet also den in der Forschung eingebürgerten Begriff stasis für dieses politische Phänomen als terminus technicus.
Ein wesentlicher Streitpunkt in der Forschung ist gerade für die hellenistischen Jahrhunderte die Frage, wie weit abweichende Meinungen über die außenpolitische Ausrichtung einer Polis für den Ausbruch von gewalttätigen stasis bestimmend gewesen seien. Die Frage ist, nach Lage der bruchstückhaften Überlieferung, nicht in jedem Einzelfall befriedigend zu beantworten, denn auch bei den Bürgerkriegen der klassischen Zeit kam die Unterstützung einer oder mehrerer auswärtiger Mächte, welche Einfluss suchten, spätestens nach dem Ausbruch der Gewalt, regelmäßig vor. Und die hellenistische Zeit, wo der außenpolitische Rahmen zunächst von den streitenden makedonischen Königen, dann vom aufstrebenden Rom weitgehend bedingt war, zwang die Poleis immer wieder, zu den laufenden Streitigkeiten Stellung zu nehmen. Andererseits legten die Könige bzw. der römische Senat immer großen Wert darauf, Polis-Politiker, die sie als wohlwollend betrachteten, zu fördern, denn sie verfügten nicht über personelle Kapazitäten, um ihren Einfluss in die Poleis auf andere Weise geltend zu machen. Dennoch macht es Börm wahrscheinlich, dass das außenpolitische Moment in vielen Fällen für den Ausbruch einer stasis nicht maßgeblich gewesen sein dürfte. Die fast überall vorhandene immanente Spaltung der jeweiligen städtischen Elite und der Drang nach Führerschaft (euphemistisch von Modernen als das "agonale Prinzip" gekennzeichnet) schloss die Bildung eines staatstragenden Erbadels mit einheitlichem ständischem Selbstbewusstsein aus. Die innerstädtischen Kämpfe führten sehr oft zu Vertreibung der Gegner, wenn nicht zur deren Ermordung, im städtischen Diskurs zum Vorwurf der Tyrannisbildung, wobei sich die Gewinner im Kampf der Eliten immer als Verteidiger der städtischen Normverfassung der Demokratie gebärdeten.
Börm teilt seine Untersuchung in zwei Hauptsektionen, in welchen er einmal die literarischen Quellen und einmal die inschriftlich-dokumentarischen Quellen untersucht. Bei beiden hat er im Detail sorgfältige kritische Detailbeobachtungen gemacht, die hier nicht aufgeführt werden können. Sein Fazit aus der umfangreichen Untersuchung, das uns doch interessiert, lautet, dass bei der stasis es sich im Wesentlichen um Kämpfe unter den städtischen Eliten handelte; dass die überlieferten Kämpfe, selbst dann, wenn außenpolitisch verbrämt, stark personalisiert waren - daraus der topische Tyrannenvorwurf, sowie die Betonung der Rolle des Einzelnen als Vorkämpfer -, und dass eine aktive Beteiligung der unteren Schichten kaum belegt ist.
Bei den dokumentarischen Quellen betont Börm zurecht, dass es sich um offiziöse städtische Ausführungen handelt, ob es um das Lob für die Tätigkeit fremder Richter, um die so genannten Verfassungseide, oder um Gesetze gegen Tyrannen geht. In allen Fällen sind die auf Stein veröffentlichten und so verewigten Dokumente die Äußerungen derjenigen politischen Gruppen, die in der Lage waren, die Führungsrolle in der jeweiligen Polis, vor oder als "Sieger" nach einer stasis, zu übernehmen und ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Insbesondere die öfters vorkommende Betonung der - eventuell wiederhergestellten - Eintracht (homonoia) soll nicht bloß Topos sein, sondern ein Hinweis darauf, dass es etwas gegeben hat, das besser verschwiegen, auf jeden Fall nicht im Detail aufgeführt und auf der Inschrift monumentalisiert werden sollte. Die jeweils Unterlegenen sollten nicht weiter provoziert werden. Paradoxerweise führt, nach Börms Ausführungen, gerade die Uneinigkeit der städtischen Eliten zu einem Stabilitätsfaktor für die demokratischen Verfassungen, denn die unteren Schichten, die sich in der Volksversammlung trafen, waren weitgehend unbeteiligt an den Prestige- und Machtkämpfen der Eliten. Deswegen konnten sie, zumindest in Ansatz, versuchen zu verhindern, dass eine Gruppe die absolute Oberhand gewänne, mit der eventuell resultierenden und von allen gefürchteten Vernichtung des Gegners.
Für die Herrschaftsmächte, die Könige und Rom, bot diese strukturelle Instabilität der städtischen Eliten durch die Bevorzugung und Förderung einer der konkurrierenden Gruppen bzw. ihrer Führer eine Handhabe zur Kontrolle, gleichzeitig aber verhinderte sie die dauerhafte Herrschaft einer bestimmten Gruppe, ob Familie oder sonstige Interessengemeinschaft. Auch Rom lernte im 2. Jahrhundert nur allmählich, dass eine Fernsteuerung der griechischen Gemeinden durch die Förderung ihrer lokalen "Freunde" wegen der Spalttendenzen der griechischen Oberschichten keine stabilen Verhältnisse herbeiführen konnte. Ohne eine effektive Dauerpräsenz waren die Spaltungen nicht einzudämmen.
Börm hat ein gediegenes und weiterführendes Buch zur Geschichte der griechischen Poleis in hellenistischer Zeit geschrieben und Thesen entwickelt, selbst wenn manchmal etwas überspitzt, die der Komplexität der Problematik gerecht werden. Es bleibt aber leider so, wie er selbst immer wieder betont, dass die lückenhafte Quellenüberlieferung nach wie vor große Unsicherheiten verursacht und tragfähige Verallgemeinerungen erschwert.
R. Malcolm Errington