Wilhelm Bleek: Vormärz. Deutschlands Aufbruch in die Moderne. Szenen aus der deutschen Geschichte 1815-1848, München: C.H.Beck 2019, 336 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-73533-2, EUR 28,00
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Es gibt unzählige Veröffentlichungen über den Vormärz - aber kein Werk ist wie dieses. Denn dieses Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es den Vormärz auf originelle Art, nämlich in "Miniaturen" (11), erzählt. Die Geschichte wird hier in Szene(n) gesetzt und punktuell abgetastet; und diese liebevoll gestalteten Skizzen ergeben ein ausgewogenes und ansprechendes Gesamtbild. Dass mit Wilhelm Bleek ein historisch arbeitender Politikwissenschaftler eine solche Studie über die Jahrzehnte zwischen dem Wiener Kongress 1815 und der Revolution von 1848 verfasst hat, mag dabei nicht allein dem Zufall geschuldet sein. Die breiter kultur- als politik- und sozialgeschichtlich angelegten Bücher von Hartwig Brandt (2002) und Thomas Nipperdey (1983) kommen Bleeks Darstellung inhaltlich vermutlich noch am nächsten.
23 Episoden, ausgehend von einem Ereignis und einem einprägsamen Bild, ergeben gemeinsam den Blick in ein "Kaleidoskop" (12) des Vormärz. Die einzelnen Kapitel mit einer Länge von zwölf Seiten im Mittel sind chronologisch aufgereiht und reichen vom Wiener Kongress bis zur Eröffnung der Frankfurter Nationalversammlung. Zeitlich verteilen sie sich ziemlich gleichmäßig auf die 34 Jahre des Vormärz; mehr als maximal vier Jahre Abstand (zwischen 1833 und 1837) gibt es nicht. Inhaltlich decken die Kapitel Politik, Gesellschaft, Kultur, Kirche, Technik und Wissenschaft ab, und es gelingt Bleek sehr anschaulich und detailverliebt, die Episoden über ein Ereignis mit sonstigen wissenswerten Fakten zu verknüpfen. Das Kapitel über die Eröffnung der Eisenbahnstrecke von Leipzig nach Dresden (1837/39) verbindet er beispielsweise mit längeren Ausführungen über Friedrich List, den Inspirator der Eisenbahn. Besonders gelungen erscheint der Abschnitt über die Erstveröffentlichung des Reiseführers von Karl Baedeker (1832). Hier betont der Verfasser seine persönlichen Zugänge zum Thema "Vormärz", schließlich stammt er aus Bonn und ist mit dem Mittelrhein bestens vertraut. Dies gilt ebenso für das Kapitel über die Gründung der Universität Bonn (1818). Auch dass der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann mehrfach vorkommt, ist kein Zufall, denn Bleek hat 2010 eine Biographie über ihn vorgelegt. Schließlich kommen auch seine Vorfahren im Text vor: die Theologen Friedrich Bleek und Wilhelm Martin Leberecht de Wette.
Häufig wählt Bleek für den Vormärz-Kenner vertraute Szenen für seine Miniaturen aus. Wartburgfest, Sand-Attentat und Hambacher Fest fehlen ebenso wenig wie Goethes Tod, die Göttinger Sieben, das Dombaufest oder die Paulskirche. Das ermöglicht es zum einen, für den weniger kundigen Leser an Bekanntes anzuknüpfen, zum anderen aber auch, dem Experten mit unterhaltsamen Details aufzuwarten. Stets ist es ein Blick, der zwischen warmer Zuneigung, ironischer Distanz und amüsiertem Augenzwinkern changiert. Wer wusste schon, dass sich der österreichische Staatskanzler Metternich während der Rede des preußischen Königs beim Kölner Dombaufest 1842 demonstrativ die Haare kämmte, um seiner Skepsis gegen den nationalen Pathos Ausdruck zu verleihen? Auch dass der Literaturwissenschaftler August Wilhelm von Schlegel als "Theoretiker der romantischen Liebe" die Ehe mit einer über zwanzig Jahre jüngeren Braut nicht vollziehen konnte, als eitler und "alternder Paradiesvogel" (58) sich schminkte und über 31 Perücken verfügte, lässt schmunzeln. Kurios ist auch, dass der Scharfrichter des Attentäters Carl Sand aus Erschütterung über die Hinrichtung seinen Beruf aufgab. Solche Details vermitteln ein Bild jenseits bekannter Fakten und bleiben gerade deshalb beim Leser haften. Sie stammen zumeist aus den dichten Quellen, aus denen Bleek schöpft und die er im Anhang in kleiner Auswahl pro Kapitel auflistet.
Selbstverständlich hätte man auch andere oder zusätzliche Szenen auswählen können, so beispielsweise über die Debatten in den frühkonstitutionellen Landtagen, das "Staatslexikon" von Karl von Rotteck und Carl Theodor Welcker, die Gemälde von Caspar David Friedrich, den Deutschen Zollverein, das Grimmsche Wörterbuch, den Aufstand der schlesischen Weber, die Wallfahrt zum Trierer Heiligen Rock oder die Judenemanzipation. Auch ist verwunderlich, dass den Vormärz prägende Gestalten wie der Dichter Georg Büchner (im Gegensatz zu Goethe) und der Komponist Franz Schubert (im Unterschied zu Felix Mendelssohn Bartholdy) nicht einmal erwähnt werden. Doch es ist letztlich jedem Autor zugestanden, sich den Zugriff auf ein Thema selbst zu wählen. Zudem ist es erstaunlich, wie viele weitere Sachaspekte in den einzelnen Kapiteln behandelt werden, ohne dass sie selbst im Mittelpunkt stehen. Dies gilt beispielsweise für das Aktienwesen in der Episode über den Eisenbahnbau, die Verklärung des Waldes als mystischen Ort in der Oper "Freischütz" oder die Romantik als Epochenthema im Zusammenhang mit der Rheinreise Baedekers. Und es gibt neben bekannten auch manche überraschende Szenenbilder, vor allem mit Blick auf die Kunst-, Kultur- und Technikgeschichte: Dazu zählen die Abschnitte über die Romantische Oper "Der Freischütz" von Carl Maria von Weber (1821), die Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte (1822), den Tod des Unternehmers Friedrich Krupp (1826), die Gründung von Bremerhaven (1827) oder die Erfindung des elektromagnetischen Telegraphen durch Carl Friedrich Gauss und Wilhelm Weber (1833).
Nur wenig ist zu bemängeln. So hätte man sich bei der Schilderung des Hambacher Festes gewünscht, mehr über die politische Ausrichtung der Teilnehmer zu erfahren, schließlich zeigt sich hier erstmals das Auseinanderdriften von Liberalen und Demokraten, das dann 1848 endgültig offensichtlich wurde. Beim Kapitel über den Eisenbahnbau hätte der Autor die Gesundheitsbedenken vieler Zeitgenossen erwähnen, beim Kölner Dombaufest ein paar Informationen über die Wiederentdeckung der Gotik bieten können. An einigen Stellen kommt es zu Wiederholungen, so wenn zweimal der "Mischehenstreit" erläutert wird oder eine Stelle aus der Verfassung von Sachsen-Weimar-Eisenach doppelt aufscheint. Vielleicht konzentriert sich der Blick auch insgesamt eher zu stark auf das Bürgertum und hätte mehr als geschehen den Adel und die Unterschichten berücksichtigen können.
Insgesamt aber beschert Bleek seinem Publikum mit seinen Miniaturen aus dem Vormärz ein unterhaltsames Lesevergnügen. Es gelingt ihm, mit viel Wissenswertem die "Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit" (10) der Epoche, ja ihre Ambivalenz zu verdeutlichen. Die "Lebenslagen und Lebensgefühle" (11) der Menschen werden anschaulich und kurzweilig erzählt, wobei Bleek bei aller Liebe zum Detail auch die generellen Entwicklungen des Vormärz im Blick behält. Zugleich wird dem Leser eindringlich vor Augen geführt, dass mit den politischen, "gesellschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Umwälzungen" (10) des frühen 19. Jahrhunderts ein unaufhaltsam scheinender "Aufbruch in die Moderne" einsetzte.
Ewald Grothe