Arne Karsten: Der Untergang der Welt von gestern. Wien und die k.u.k. Monarchie 1911-1919, München: C.H.Beck 2019, 269 S., 18 s/w-Abb., 4 Kt., ISBN 978-3-406-73512-7, EUR 26,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wolfram Dornik: Des Kaisers Falke. Wirken und Nach-Wirken von Franz Conrad von Hötzendorf. Mit einer Nachbetrachtung von Verena Moritz und Hannes Leidinger, Innsbruck: StudienVerlag 2013
Alma Hannig: Franz Ferdinand. Die Biographie, Wien: Amalthea 2013
Michaela Vocelka / Karl Vocelka: Franz Joseph I. Kaiser von Österreich und König von Ungarn, München: C.H.Beck 2015
Walter Rauscher: Die fragile Großmacht. Die Donaumonarchie und die europäische Staatenwelt 1866-1914, Teil 1 und 2, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2014
Jana Osterkamp: Vielfalt ordnen. Eine föderale Geschichte der Habsburgermonarchie (Vormärz bis 1918), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020
Reinhard Nachtigal: Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914-1918. Literaturbericht zu einem neuen Forschungsfeld, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005
Sönke Neitzel: Blut und Eisen. Deutschland im Ersten Weltkrieg, Zürich: Pendo Verlag 2003
Jana Osterkamp: Vielfalt ordnen. Eine föderale Geschichte der Habsburgermonarchie (Vormärz bis 1918), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020
Arne Karsten: Kleine Geschichte Venedigs, München: C.H.Beck 2008
Arne Karsten: Künstler und Kardinäle. Vom Mäzenatentum römischer Kardinalnepoten im 17. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003
Arne Karsten (Hg.): Das Grabmal des Günstlings. Studien zur Memorialkultur frühneuzeitlicher Favoriten, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2011
Arne Karsten nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf einen Spaziergang durch Wien in den letzten Jahren des Habsburgerreiches. Der Titel des Buches verweist auf Stefan Zweig, aber der wichtigste Gewährsmann, dessen Texte und Beziehungsnetze die Stationen dieses Spaziergangs bestimmen, ist Arthur Schnitzler. Aus Schnitzlers Tagebuch und aus seinen Werken gewinnt Karsten eine besondere Perspektive auf Wien und das Imperium zwischen 1911 und 1919. Es gibt aber noch eine zweite Hauptfigur in diesem Buch, Stephanie Bachrach, die Tochter eines Wiener Börsenmaklers, der sich nach seinem Bankrott 1912 das Leben nahm. Nach dem Tod des Vaters arbeitete die 1887 geborene Bachrach als Ordinationshelferin und Krankenschwester, einige Monate auch in einem Feldlazarett. Schnitzler lernte Bachrach 1911 kennen und sah sich wohl als Mentor der jungen Frau. Am 15. Mai 1917, genau am Tag von Schnitzlers 55. Geburtstag, beging Bachrach Selbstmord. Vor allem aus Texten Schnitzlers und anderer Freunde und Bekannten gestaltet Karsten sein Bild von Bachrachs Leben. So bleibt Bachrach, dessen ist Karsten sich bewusst, in erster Linie Projektionsfläche für die Wertungen und Wahrnehmungen ihrer Umgebung. Sie neben Schnitzler zur zweiten Hauptperson des Buches zu machen, erlaubt Karsten den fokussierten Blick auf bestimmte Teile der Netzwerke und Milieus, in denen Schnitzler sich bewegte. Wie im jüdischen Bürgertum Wiens die Krise und den Untergang der Habsburgermonarchie durchlebt und wahrgenommen wurde, kann Karsten so zumindest für seine Protagonisten nachzeichnen.
Das Vorhaben, biografische Aspekte und wesentliche Dimensionen der historischen Entwicklung zu verschränken, wird von Karsten konsequent umgesetzt. So bietet das Buch einen Überblick über wesentliche politische Konflikte der Jahre zwischen 1911 und 1914, aber auch über wichtige Facetten des Kriegsgeschehens bis hin zur Revolution Ende 1918. Sicher kann eine solche Skizze keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, aber es ist bemerkenswert, wie gut es Karsten auf engem Raum gelingt, gerade die sicherheitspolitischen Krisen und Probleme der späten Habsburgermonarchie nachzuzeichnen. Zielsicher hat er dafür nicht nur aussagekräftige Quellen ausgewählt, sondern auch die neuere Forschungsliteratur rezipiert. Dabei gestaltet Karsten die Erzählung immer leserfreundlich, auch wenn es gilt, komplexe Zusammenhänge verdichtet zu erläutern. Manchmal allerdings sind die Schwerpunkte der Geschichtsbetrachtung nicht leicht nachvollziehbar. Das gilt insbesondere für die Passagen zur Kriegspropaganda, in denen kaum Konkretes über die Bemühungen Österreich-Ungarns auf diesem Feld berichtet wird, während die britische Propaganda gegen Deutschland eine vergleichsweise genaue Darstellung erfährt. Das ist nicht zuletzt deshalb überraschend, weil gerade Schriftsteller über das Kriegspressequartier in die Kriegspropaganda der Habsburgermonarchie einbezogen wurden. Die relativ große Aufmerksamkeit für die Bedeutung Italiens in der Vorkriegszeit, aber auch während des Krieges, könnte auch damit zu tun haben, dass Karsten ein ausgewiesener Kenner des südlichen Nachbarn Österreichs ist. Der Konflikt mit dem Zarenreich und der Krieg in Galizien kommen demgegenüber zu kurz, trotz ihres historischen Gewichts und der Bedeutung für die Biografie Bachrachs. Das ändert jedoch nichts daran, dass sich bei Karsten auf knapp 200 Textseiten erstaunlich viele Aspekte der Geschichte Österreich-Ungarns seit 1911 finden, neben dem Einblick in die Biografien und Beziehungsgeflechte Schnitzlers und Bachrachs.
Der Strang der Erzählung rund um Schnitzler und Bachrach mündet nicht in ein neues Bild der Geschichte der Habsburgermonarchie. Die Rolle des jüdischen Bildungsbürgertums und die Verlusterfahrung weiter Teile der literarischen Elite Wiens nach dem Untergang des Imperiums fehlen wohl in keiner Überblicksdarstellung der späten Habsburgermonarchie. Insofern stellt sich Frage danach, für welche Leserschaft das Buch von Karsten gedacht ist. Es dürfte sich weniger an diejenigen richten, die mit der Geschichte Österreich-Ungarns schon gut vertraut sind. Sie mögen zwar über Schnitzler und Bachrach Neues erfahren, aber die Stellung Schnitzlers im Wiener Literaturbetrieb und in österreichischen Schriftstellerkreisen während des Krieges wird nicht genauer dargestellt. Wer hingegen Schnitzlers Werk, nicht aber den historischen Kontext dazu kennt, dem sei der von Karsten angebotene Spaziergang durch Wien zwischen 1911 und 1919 sehr empfohlen.
Günther Kronenbitter