Rezension über:

Beate Reifenscheid (Hg.): Howard Kanovitz. Visible Difference, Cinisello Balsamo: Silvana Editoriale 2017, 183 S., ISBN 978-88-366-3616-7, EUR 19,25
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Ralf Michael Fischer
Fach Kunstgeschichte, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Henning Engelke
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Michael Fischer: Rezension von: Beate Reifenscheid (Hg.): Howard Kanovitz. Visible Difference, Cinisello Balsamo: Silvana Editoriale 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 10 [15.10.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/10/33469.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Beate Reifenscheid (Hg.): Howard Kanovitz

Textgröße: A A A

Der Untertitel "Visible Difference" steht programmatisch für die Texte des Kataloges zur Howard-Kanovitz-Ausstellung, die 2017 unter der Ägide von Beate Reifenscheid und Mark R. Hesslinger im Ludwig Museum Koblenz veranstaltet wurde. Die meisten der sieben zweisprachig in deutsch und englisch abgedruckten Beiträge fokussieren das Werk des Künstlers unter dem Vorzeichen der "sichtbaren Differenz" zwischen verfremdet-reflexiven Trompe-l'œil-Bildern und Realität. Damit knüpft das Kuratorenduo an die maßgeblichen deutschsprachigen Kanovitz-Kataloge von 1974 und 1979 an, die jeweils mit einem Wiederabdruck vertreten sind. [1] Aus diesem Grund prägen folgende argumentative Leitmotive die Texte: Kanovitz untersucht demnach in seinem Œuvre das Verhältnis zwischen Bild und Realität, verweigert Eindeutigkeit und erzeugt dergestalt Zweifel am Bild. Deshalb repräsentiere er keine der beiden Kunstrichtungen, denen er oft zugeordnet wurde - weder die Pop Art noch den Fotorealismus, wie etwa seine Präsentation auf der Documenta 5 von 1972 nahelegt.

Keineswegs zufällig nennt Beate Reifenscheid ihren einführenden Aufsatz "Das Konstrukt Realität" und etabliert damit den Gesamttenor des Kataloges. Sie zieht dabei einerseits eine Grenze zwischen der Pop Art mit ihrer Konzentration auf Massenmedien bzw. Massenkonsum und Kanovitz, der sich zeitgleich von der Abstraktion zur Figuration hinwendet und dessen Hauptthema demgegenüber das Verhältnis zwischen Bild und "der gesehenen Realität" (14) sei. Andererseits rückt sie sein Werk in die Nähe von René Magrittes bildreflexivem Surrealismus, indem sie dessen berühmtes Gemälde "Le trahison des images" von 1929 einbezieht (vgl. 12).

In ihrem Beitrag betont Reifenscheid insbesondere die zunehmende Komplexität von Kanovitz' Irritationen eines veristischen wiedererkennenden Sehens und konzentriert sich auf die hierfür kaum zu unterschätzende Rolle der Fotografie für sein Werk ab 1963. So sei Kanovitz einer "der ersten Künstler überhaupt, die sich der Fotografie zur Rekonfiguration von Wirklichkeitsebenen im Gemälde bedienen" (16). Dabei praktiziere er "[komplexe] Auslotungen von Realität, Illusion, Repräsentanz und Sequenzierung" (18), welche die Grenzen der Fotografie vor Augen führen und diese dazu nutzen, um die Malerei als solche "wieder ins Zentrum" (18) zu rücken. Sie wendet treffend Peter Lunenfelds Auseinandersetzung mit dem Begriff des "Dubiativs" (vgl. 18) an, um die Bildskepsis zu charakterisieren, die sich aus Kanovitz' Rekurs auf fotografische Bilder für seine Malerei ergibt.

Indem Reifenscheid Kanovitz' Œuvre als "Schule des Sehens" (14) charakterisiert, bereitet sie den ausführlichsten Text vor, an den sie eigentlich anknüpft. Jörn Merkerts Diskussion von Kanovitz als "Maler des Widerspruchs" (20) entstand anlässlich der bereits erwähnten letzten deutschen Einzelausstellung des Künstlers von 1979. [2] Folglich steht lediglich die Werkentwicklung bis 1974 im Mittelpunkt, die den Übergang vom abstrakten Frühwerk zu den illusionistischen Bildern umfasst. Merkert vollzieht die Genese von Kanovitz' Technik und seiner Motive präzise nach, um herauszustellen, inwiefern seine Bildreflexionen, etwa in Form von Fensterbildern, die europäische Bildtradition unter Einbeziehung der Fotografie fortsetzen und somit nicht dem Fotorealismus zuzurechnen seien. [3]

Da seit 1979 keine Kanovitz-Einzelausstellung in Deutschland mehr stattgefunden hat, wäre trotz Merkerts grundlegenden und lesenswerten Erörterungen auch ein ausführlicher neuer Text sinnvoll gewesen, um aktuelle Debatten zur Bildtheorie sowie zur Bild- und Medienreflexion intensiver einzubeziehen. Ein konzeptuelles Missverhältnis ergibt sich daraus, dass gerade die frühen, abstrakt-expressionistischen Arbeiten, von denen nicht selten die Rede ist, nicht einmal als Illustrationen und erst recht nicht als Exponate in Erscheinung treten.

Mark R. Hesslinger untersucht Kanovitz innerhalb der europäischen Bildtradition und knüpft gleichfalls an Merkert an, der die diesbezüglich wegweisende Europareise des Künstlers von 1956 nicht ohne Augenzwinkern als "anti-amerikanische Bildungs-Erfahrung" (24) bezeichnet. Hesslinger spürt der Frage nach, inwiefern Kanovitz' intensives Studium vor allem der italienischen Frührenaissance von großem Belang für das Verständnis seiner nicht-abstrakten Werke ist, selbst wenn er moderne Inhalte wählt oder gar ganze Ensembles von "shaped canvases" herstellt (vgl. 54). Hierbei konzentriert sich der Verfasser insbesondere auf Kanovitz' Figurengruppen und deren potenzielle ikonographische Vorbilder. Auch Hesslinger präsentiert Kanovitz somit als "Maler des Widerspruchs" und weist in diesem Kontext zurecht auf das seinem Œuvre zugrundeliegende Paradoxon der Künstlichkeit künstlerischer Realismen hin, die dem Blick oftmals selbstreflexiv genauso viel sichtbar machen wie sie ihm verweigern (vgl. 56-58).

Sam Hunters kurzer Text von 1974, auch ein Wiederabdruck [4], lenkt das Augenmerk auf die Poesie und Mehrdeutigkeit in Kanovitz' Werk und bringt noch einmal die Zielsetzung des Ausstellungskonzeptes auf den Punkt: "Statt simpler Fakten und Schemen finden wir doppeldeutige Gleichungen; die peinlich genaue Spritztechnik und die Exaktheit der Erscheinung erzeugen eher eine Atmosphäre des Zweifels als der Sicherheit" (62). In eine ähnliche Richtung führt der kurze Text von Carolyn Oldenbusch Kanovitz, in dem die zweite Ehefrau und Leiterin der Howard Kanovitz Foundation ebenfalls auf das unauflösbar Geheimnisvolle in seinen Bildern abhebt (vgl. v.a. 46). Wie die beiden folgenden Kurztexte tritt sie als Augenzeugin auf und berichtet von ihren Begegnungen mit dem Künstler, wobei sie auch dessen letzte Werke vor seinem Tod 2009 einbezieht.

Zwei Erfahrungsberichte runden die Textbeiträge ab: Rainer Gross, langjähriger Mitarbeiter von Kanovitz, und BAP-Sänger Wolfgang Niedecken, der ursprünglich Künstler werden wollte, führen die Zeit von dessen Köln-Aufenthalt 1971 und dessen Atelierpraxis plastisch vor Augen. Erfreulicherweise laden Abbildungen von verwandten Gross- und Niedecken-Gemälden aus diesen Jahren zum Vergleich mit Howard Kanovitz ein.

Den Abschluss bildet ein ausführlicher Katalogteil mit sehr guten Reproduktionen, Werkliste und Biografie, der einen eindrucksvollen Überblick der Schaffensjahre zwischen 1965 und 2007 vermittelt.

Wie man den obigen Anmerkungen bereits entnehmen kann, ergibt sich durch das Fehlen von Kanovitz' frühen, abstrakt-expressionistischen Bildern, die unter dem Eindruck seines Lehrers Franz Kline entstanden, eine gewichtige Lücke im Hinblick auf die allgemeine Argumentation, die diese als Folie zur Erklärung der 'realistischen' Bilder voraussetzt. Gelegentlich finden sich redaktionelle Unachtsamkeiten wie die zweimalige Erwähnung eines gewissen "Jackson Pollack" (26) in der deutschen Fassung von Merkerts Text. [5]

Das große Verdienst von Katalog und Ausstellung besteht jedoch gerade darin, das reichhaltige Œuvre von Howard Kanovitz durch seine Zweisprachigkeit nach fast vier Jahrzehnten wieder für ein europäisches und vor allem für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich zu machen und aufzuzeigen, wie es sich nach 1979 weiterentwickelt hat. Neben Weggenossen kommen auch wichtige Autoren der 1970er Jahre zu Wort, deren Denkansätze zur Uneindeutigkeit, zur Dialektik aus Bildaffirmation und Bildzweifel sowie zur Spannung zwischen Moderne und Tradition überzeugend weitergeführt werden. Allerdings hätte es nicht geschadet, die insgesamt sehr homogene Gesamtargumentation durch ein oder zwei Gegenpositionen aufzumischen. Wünschenswert wäre es auf jeden Fall, wenn aus den vielen Anregungen des Koblenzer Ausstellungsprojektes zum Werk dieses leider noch nicht angemessen gewürdigten Malers vertiefende systematische Untersuchungen hervorgehen würden.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Siegfried Salzmann (et al.) (Hgg.): Howard Kanovitz, Duisburg 1974; Barbara Volkmann (Bearb.): Howard Kanovitz. Arbeiten 1951 bis 1978, Berlin 1979.

[2] Vgl. Volkmann 1979 (wie Anm. 1), 19-38.

[3] Ein wichtiges Indiz hierfür ist z. B. der Katalog Fotorealismus. 50 Jahre hyperrealistische Malerei, hg. von Otto Letze, Ostfildern 2012, in dem Kanovitz keine Erwähnung findet.

[4] Vgl. Salzmann 1974 (wie Anm. 1), 14-16.

[5] Vgl. Merkert 1979 (wie Anm. 2), 22 und 23, wo Pollock ebenso korrekt geschrieben wurde wie in der englischen Fassung des Koblenzer Kataloges (vgl. 25).

Ralf Michael Fischer