Raimo Pullat: Świat rzeczy mieszkańca Tallinna w dobie Oświecenia. Przekład z języka estońskiego: Anna Juga-Szymańska, Kraków: Polska Akademia Umiejętności 2018, 450 S., ISBN 978-83-7676-296-8, PLN 39,00
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Raimo Pullat ist emeritierter Professor der Geschichte der Universität Tallinn und ein ausgewiesener Kenner der Geschichte seiner Heimatstadt Tallinn. Seit Jahrzehnten widmet er sich der Sozial- und Kulturgeschichte, der historischen Demographie, der Stadtgeschichte, linguistischen Fragen sowie Fragen der Außenpolitik in den östlichen und nördlichen Teilen Europas.
Sein hauptsächliches Forschungsinteresse gilt allerdings der Aufarbeitung der Alltagskultur im frühneuzeitlichen Tallinn, und diesem Sujet widmet sich das hier zur Besprechung vorliegende Buch.
Auf der reichen Quellengrundlage der Nachlassverzeichnisse im Stadtarchiv Tallinn arbeitet Pullat detailliert die materielle Kultur der Stadtbewohner in der Frühen Neuzeit auf: der Handwerker, der Kaufleute, des städtischen Beamtentums, der sich in der Stadt aufhaltenden Bauern; kurzum der gesamten in der Stadt "materiell" präsenten Bevölkerung. Entsprechend der polnischen Terminologie (der Rezensentin liegt zur Besprechung eine polnische Übersetzung des im estnischen Original [Tallinlase asjademaailm valgustussajandil] 2016 erschienenen Buchs vor) wird für diese Zeit der Begriff Oświecenie (Aufklärung) benutzt.
Die einzelnen Kapitel der Studie widmen sich strukturiert den Lebenswelten der Tallinner Einwohner: den Besitzverhältnissen, dem Gesundheitszustand, dem Wohlstand, dem "Raum" als Ort des menschlichen Handelns - Pullat greift hier auf die hauptsächlich in der deutschen Forschung präsente Definitionen zurück. Die kommunalen Einrichtungen: Straßen, Straßenbeleuchtung, sanitäre Anlagen, Kanalisation sowie Wasserversorgung werden neben der Medizingeschichte: der Auflistung der Hospitäler, des medizinischen Personals, aber auch der "Alternativmedizin" - wie es in der deutschen Zusammenfassung heißt (424) - dargestellt. Es folgen Einzelstudien über anerkannte Ärzte und Apotheker dieser Zeit, deren Tätigkeit in besonderem Maß zur Verbesserung des Gesundheitswesens beigetragen hat: den Apotheker Johann Burchardt V., den städtischen Chirurgen Andreas Arnold Christoph Ritter sowie den Kreisarzt Peter Friedrich von Körber.
In den weiteren Kapiteln werden die Essgewohnheiten und die Wohn- und Kleiderkultur thematisiert. Auch hier sind die Nachlassinventare eine eminent wichtige Quelle gewesen. Dabei zeichnet sich (z. B. für die Möbelherstellung und Wohnutensilien) eine klare Verflechtung der städtischen und ländlichen Kultur ab, die wohl eine Besonderheit der Region gewesen ist und in einem höheren Maß (folgt man den dargelegten Archivbefunden) für das Tallinner Weichbild charakteristisch war.
Ein besonders interessantes Kapitel ist der Kleiderkultur der Bewohner der Stadt Tallinn gewidmet. Pullat wertet dabei nicht nur Archivmaterial aus, sondern bezieht auch frühere Literatur, hauptsächlich Studien estnischer Autoren, sowie ikonographisches Material ein, und zieht Vergleiche mit der Entwicklung in den Nachbarländern. Das Modebewusstsein der Tallinner Bevölkerung hielt in jeder Hinsicht Schritt mit russischen (Felle aus dem Zarenreich) und europäischen Standards.
Auch bei den Ess- und Trinkgewohnheiten kann Pullat eine fortschreitende Anpassung der Tischkultur und der Kochkunst an westliche Vorbilder feststellen. Das ist natürlich auch eine "schichtspezifische" Frage gewesen: unter den Baltendeutschen wurden die Speisen - nach französischem Vorbild - "feiner". Das hauptsächliche Angebot an Nahrungsmitteln für die Handwerker und "einfachen" Leute stammte aus dem estnischen Umland und beinhaltete neben Roggen Fisch und Fleisch. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen Kartoffeln dazu. Für die Esskultur konstatiert Pullat eine deutlich nordeuropäische regional bedingte Ausprägung der Gewohnheiten: Während West-, Mittel und Südeuropäer mit Vorliebe Mehlspeisen und Fleisch verzehrten, aßen die Tallinner eiweißhaltigen Fisch und tranken Höherprozentiges. Dieser Befund darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die kleinen Leute sich einseitig und einfach ernährten. Die noblen (zivilisierten) Tischmanieren blieben Patriziern und Adel vorbehalten.
Der mittelalterliche Biergenuss wurde im 18. Jahrhundert durch Schnaps- und Branntweinverzehr ergänzt und erweitert. Hier vollzog sich eine Entwicklung, die der europäischen in Nichts nachstand. Im frühneuzeitlichen Tallinn waren ebenfalls Tee, Kaffee, Schokolade und Tabak (ebenso als Schnupftabak) bekannt.
Auch der in Europa sich immer mehr verbreitende Hang zum Luxus machte vor den Tallinner Bürgern nicht Halt. In den Nachlassinventaren der Verstorbenen werden zahlreiche Gegenstände aufgelistet, die auf Sammelleidenschaft und Reichtum der Einwohner verweisen: wertvolle Möbel, Gemälde, Leuchter, Musikinstrumente, Gold- und Silbergegenstände werden neben den sich im Besitz der Familien befindlichen Immobilien sorgfältig aufgezeichnet. Dieser Reichtum besaß - neben der sozialen Funktion der Repräsentanz - eine Bestimmung als Absicherung für den Fall der "Devalvation" (429, zitiert nach Maria Bogucka).
Gesondert, in einem eigenen Kapitel, behandelt Pullat den Bücherbesitz der Tallinner Bevölkerung. Er verweist zwar darauf, dass die Geschichte der Bibliotheken im Baltikum und Finnland weitgehend erforscht sei, kann aber zugleich auf - in seinen Augen - unerforschte Momente hinweisen, z.B. die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Bibliotheken, in denen vorwiegend theologische Literatur vertreten war, was auf einen starken Einfluss des Pietismus unter den Tallinner Bürgern hindeuten würde (431).
Die Erforschung der materiellen Kultur der Stadt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit erfreut sich nach wie vor eines guten Rufs als wissenschaftlicher Mainstream und liefert immer aktuellere Beiträge aus den Bereichen der Geschichte und Kunstgeschichte. [1] Die aktuellen methodischen Ansätze lassen ganz neue Erkenntnisse auch aus traditionellen Quellen zu und nehmen zugleich Artefakte in Augenschein, die in der herkömmlichen Forschung bisher außerhalb des Interesses lagen. Es werden neue Aspekte der städtischen Kultur entdeckt und beleuchtet. Umso sinnvoller ist es, ein Werk in die Hand zu bekommen, das zwar mit der vertrauten Quellenbasis der Nachlassinventare arbeitet, sie aber ausführlich analysiert und vergleichend mit den Erkenntnissen anderer Darstellungen zu europäischen Kommunen konfrontiert.
Ein Handicap des Buches ist seine sprachliche Ausfertigung. Erschienen ursprünglich auf Estnisch, erfreut es sich jetzt einer (gelungenen) polnischen Übersetzung - was der Rezeption seiner Ergebnisse freilich nur bedingt förderlich ist, denn sie beschränkt sich letztendlich auf die sprachkundigen Frühneuzeithistoriker oder Osteuropahistoriker. Für die ersten ist das Buch ein Gewinn, für die zweiten womöglich eine Pflichtlektüre, um Diskussionen anzustoßen und wissenschaftlichen Austausch zu fördern.
Anmerkung:
[1] Vgl. z.B. die Vorankündigung des Sammelbandes Sabine von Heusinger / Susanne Wittekind (Hgg.): Die materielle Kultur der Stadt im Spätmittelalter und Früher Neuzeit im jüngsten Forschungsbericht des Instituts für vergleichende Städtegeschichte.
Małgorzata Morawiec