Vadim Oswalt: Karten als Quelle und Darstellung. Historische Karten und Geschichtskarten im Unterricht (= Forum Historisches Lernen), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019, 406 S., zahlr. Kt., zahlr. s/w-Abb., zahlr. Tbl., ISBN 978-3-7344-0619-5, EUR 49,90
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Mit diesem Werk bearbeitet Vadim Oswalt ein Desiderat in der Geschichtsdidaktik: Ein Grundlagenwerk zur Didaktik der Kartenarbeit im Geschichtsunterricht. Zwar existieren einige Aufsätze [1] und kleinere Abhandlungen [2] (unter anderem von der Rezensentin selbst), aber ein Grundlagenwerk sucht der interessierte Leser beziehungsweise die interessierte Leserin bisher vergebens.
Das Buch verdient die Bezeichnung eines Grundlagenwerkes, da es sich sowohl mit der Geschichte der Kartografie als auch mit der grundlegenden Didaktik im Umgang mit verschiedenen Kartengruppierungen beschäftigt. Darüber hinaus enthält es detaillierte exemplarische Interpretationen gängiger und teils einem breiteren Publikum noch unbekannter Karten sowie praktische Tipps für deren Einsatzmöglichkeiten im Unterricht.
Besonders hervorgehoben werden muss dabei das erste Kapitel "Die Karte als 'soziale Konstruktion' - Neue Ansätze zum Verständnis von Karten" (22-53), denn in der Tat sind die hier erläuterten Grundsätze der Karteninterpretation in der Geschichtsdidaktik bisher vernachlässigt worden. Oswalt orientiert sich bei seinen Ausführungen an den verschiedenen Funktionen, die Karten haben können. Diese Erkenntnis ist elementar für das Verständnis von Karten als "soziale Konstruktionen". Karten bilden die Wirklichkeit nie identisch ab. Das ist aufgrund der Komplexität der Wirklichkeit weder möglich noch aufgrund der jeweils beabsichtigten Funktion einer Karte gewollt. Karten stellen also nur einen Ausschnitt oder eine Interpretation der Wirklichkeit dar. Dadurch ist eine reine Inhaltsentnahme nicht möglich. Vielmehr müssen Karten auf die zugrunde liegende Intention hin untersucht werden, um den gezeigten Inhalt richtig einschätzen zu können. Dies ist sowohl bei Geschichtskarten, die aus heutiger Sicht ein historisches Ereignis darstellen, als auch bei historischen Karten, die vergangene Weltvorstellungen zeigen, notwendig. Oswalt siedelt diese Erkenntnis hauptsächlich bei den historischen Karten an, um zu zeigen, welches geschichtsdidaktische Potenzial in historischen Karten als Quellen steckt.
Um diese Zusammenhänge durchdringen zu können, benötigt der Kartenleser oder die Kartenleserin zunächst eine theoretische Einführung in verschiedene Funktionen historischer Karten sowie in die Geschichte der Kartografie. Daran anschließend knüpft Oswalt schlüssig methodische Interpretationsschritte und konkrete Unterrichtsmodelle an. Er greift damit die allgemeine Kritik auf, die an etlichen geschichtsdidaktischen Grundlagenwerken geübt wird, und verbleibt nicht auf der theoretischen Ebene, sondern bindet die Schulpraxis mit ein. Bezugnehmend auf sein eigenes Werk "Weltkarten - Weltbilder. Zehn Schlüsseldokumente der Globalgeschichte" entwickelt Vadim Oswalt ein "Curriculum Weltkarten". Für jede historische Weltkarte werden Raumbild / Weltbild und Epochenbezug identifiziert (101). Um seine Gedanken aus dem ersten Kapitel konkret umzusetzen, wäre an dieser Stelle noch eine Spalte mit zu fördernden Kompetenzen bezüglich historischer Karten als Quellen wünschenswert gewesen. Bei der Lektüre der vorangestellten, eingehenden Analyse der Karten werden hierfür etliche Ansatzpunkte gegeben.
Im zweiten Teil des Werkes wird auf die Gruppierung der Geschichtskarten eingegangen. Auch hier geht Vadim Oswalt zunächst auf die Grundlagen, wie zum Beispiel den Zusammenhang von Raum und Geschichtsbewusstsein, sowie die unterschiedlichen Darstellungsmöglichkeiten ein. Es folgen Ausführungen zur Frage, wie mit Geschichtskarten umzugehen ist, die durch den Fortgang der zeitlichen Entwicklung nicht mehr das aktuelle Geschichtsbewusstsein, sondern vielmehr ein vergangenes Geschichtsbewusstsein zeigen. In diesem Kapitel, in dem Geschichtsschulbücher und Geschichtsatlanten besonders analysiert werden, hätte der Autor auf Literatur von Tobias Arand [3] und Carolin Hestler [4] zurückgreifen können, um sich einer von ihnen entwickelten Begrifflichkeit zu bedienen. Geschichtskarten, die vergangenes Geschichtsbewusstsein zeigen, werden von ihnen "historische Geschichtskarten" genannt, um deren Charakter und Bedeutung als Element vergangener Geschichtskultur zu verdeutlichen. Vadim Oswalt umschreibt diese Gattung und auch die Folgen für deren Bearbeitung sehr gut, er hätte sich aber mit der Verwendung dieses Begriffs leichter getan.
Auch im Kapitel Geschichtskarten werden wieder interessante methodische Ideen besprochen, die mit dem traditionellen Bild von Karten im Geschichtsunterricht brechen. In den "Thesen zur Methodik von Geschichtskarten" (324-325) wird deutlich, dass es in der Kartenarbeit weniger um die reine Inhaltsentnahme als vielmehr um die Formulierung von Fragen, die Einordnung in den Entstehungszusammenhang, das Hinterfragen der Darstellung geht. Als geeignetes Mittel, dies zu fördern, identifiziert Vadim Oswalt neben Analysetechniken vor allem das Erstellen eigener Kartenskizzen durch die Schülerinnen und Schüler. Dabei vollziehen sie die Entscheidungen nach, die Kartenautoren ebenfalls getroffen haben.
Wie eingangs erwähnt, verdient Vadim Oswalts Buch den Begriff des Grundlagenwerkes aufgrund seiner Vollständigkeit und seiner Zusammenfassung der bisher veröffentlichten geschichtsdidaktischen Literatur zu diesem Thema. Auch wenn einzelne Publikationen nicht genannt wurden, so handelt es sich hierbei doch um die umfassendste Zusammenstellung, die über die Geschichtsdidaktik hinausgeht. Auch Rückgriffe auf relevante Literatur aus dem Bereich der geografischen Kartografiedidaktik (hier sei stellvertretend auf Inga Gryl verwiesen) [5] oder auf die englischsprachige Grundlagenliteratur (beispielsweise Mark Monmonier, Jeremy Crampton oder Jeremy Black) [6] sowie Forschungen zur Geschichte der Kartografie vervollständigen den umfassenden Eindruck des Werkes. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Aneinanderreihung theoretischer Erkenntnisse, denn die Integration detaillierter Kartenanalysen und sehr konkreter methodischer Hinweise ergeben insgesamt ein stimmiges Bild.
Anmerkungen:
[1] Beispielsweise von Rainer Bendick, Christina Böttcher, Susanne Grindel, Irmgard Hantsche, Guntram H. Herb, Detlef Mittag, Herbert Raisch, Michael Sauer, Eberhard Schwalm.
[2] Vor allem von Christof Dipper, Ute Schneider, Vadim Oswalt, Patrick Lehn, Sylvia Schraut.
[3] Tobias Arand (u.a.): Arbeitsblätter für den binnendifferenzierten Gesellschaftslehre-Unterricht mit Schwerpunkt Kartenarbeit. 3 Niveaus. Inklusionsgeeignet, Braunschweig 2017.
[4] Carolin Hestler: Karten in Geschichtsschulbüchern als Medien der Geschichtskultur: Eine Untersuchung historischer Geschichtsschulbuchkarten der preußischen Mittelschule für den Zeitraum von 1918-1945 unter besonderer Berücksichtigung des deutsch-französischen Grenzraums von der Völkerwanderung bis ins 18. Jahrhundert, Ludwigsburg 2017. Die Dissertation ist Online frei einsehbar: https://phbl-opus.phlb.de/frontdoor/index/index/docId/512.
[5] Inga Gryl (Hg.): Diercke - Reflexive Kartenarbeit. Methoden und Aufgaben, Braunschweig 2016; aber auch Armin Hüttermann (Hg.): Räumliche Orientierung. Karten und Geoinformation im Unterricht, Braunschweig 2012.
[6] Mark Monmonier: Eins zu einer Million. Die Tricks und Lügen der Kartographen, Basel 1996; Jeremy W. Crampton: Maps as social constructions: power, communication and visualization, in: Progress in Human Geography 25(2001), H. 2, 235-252 oder Jeremy Black: Mapping the Past: Historical Atlases, in: Orbis - a Journal of World Affairs 47(2003), H. 2, 277-295.
Carolin Hestler