Michael Brenner: Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918 bis 1923, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2019, 400 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-633-54295-6, EUR 28,00
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Michael Brenner, Ordinarius für Jüdische Geschichte und Kultur der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, will mit seiner Studie einen blinden Fleck der historischen Forschung beseitigen: Dass "die prominentesten Akteure der Revolution" von 1918/19 und der Münchner Räterepublik "jüdischer Herkunft waren", werde "zwar immer wieder erwähnt", sei jedoch nie gründlich untersucht worden und "letztlich eine Marginalie geblieben" (15). Brenner möchte nun zeigen, wie die jüdischen Revolutionäre zu ihrem Judentum standen und inwieweit sie von ihm geprägt wurden. Die geläufige Interpretation, dass das Judentum für ihr Denken und Handeln keine nennenswerte Rolle gespielt habe, überzeugt den Autor nicht. Auch wenn sich die Revolutionäre nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft verbunden fühlten, sei das Nachdenken über die eigene Herkunft gleichwohl prägend gewesen; "keineswegs" hätten sie ihre Herkunft als "lästige[n] Geburtsfehler" (20 f.) betrachtet. Zugleich folgt Brenner einem stadtgeschichtlichen Ansatz: Er will "jene Bühne beleuchten", auf der Hitler seit 1919 "seine neue Rolle" als antisemitischer Agitator "erprobte" und mithin zeigen, wie sich die "kurz zuvor noch als behagliche Heimat geltende Stadt innerhalb weniger Jahre zu einem feindlichen Gelände" für die Münchner Juden verwandeln konnte (18 f.). Kurz: Die revolutionären Ereignisse sollen "stärker in den Kontext der jüdischen Geschichte" (19) eingeordnet werden.
Die bekannte Tatsache, dass die Münchner Juden mehrheitlich entschiedene Gegner der Räterepublik waren bzw. sich in der gut begründeten Sorge von ihr distanzierten, "am Ende den Preis für die Taten der Eisners und Landauers" (14) zahlen zu müssen, hebt auch Brenner hervor. Zudem arbeitet er anschaulich heraus, dass der "Bogen der Akteure mit jüdischem Familienhintergrund [...] äußerst weit gespannt" (25) war, und erinnert an die simple, aber wichtige Tatsache, dass das Verhältnis der jüdischen Revolutionäre untereinander keineswegs harmonisch, sondern vielfach von Animositäten gekennzeichnet war - bis hin zu offener Feindseligkeit.
Im ersten und umfangreichsten Kapitel thematisiert Brenner das Verhältnis Kurt Eisners, Gustav Landauers, Erich Mühsams, Ernst Tollers und Eugen Levinés zur jüdischen Religion und Kultur. In Anlehnung an das Konzept des "nichtjüdischen Juden" (Isaac Deutscher) argumentiert er, dass - trotz persönlicher Distanz von aller Religiosität - keiner der Revolutionäre seine Herkunft verleugnete, was angesichts der großen Bedeutung des Themas in der zeitgenössischen Presse ohnehin aussichtslos gewesen wäre. Am plausibelsten macht Brenner seine These bei Gustav Landauer und - mit Abstrichen - Erich Mühsam. Anhand mehrerer privater und öffentlicher Äußerungen zeigt er anschaulich, dass im Denken Landauers der "jüdische[n] Spiritualität" (75) große Bedeutung zukam und dieser "sich zeitlebens tief verbunden mit den Werten der biblischen Propheten und zugehörig zu einer verfolgten Minderheit" (76) fühlte. Stärker als alle anderen Akteure "erkannte Landauer auch eine jüdische Dimension der Revolution an" (81).
Für die weiteren Revolutionäre kann Brenner hingegen kaum überzeugende (Ego-)Quellen ins Feld führen. Besonders deutlich wird dies bei Leviné; hier dient einzig ein rund 15 Jahre vor der Revolution verfasstes Kindheitsgedicht als Indiz jüdischer Identität (107). Bei Toller konzediert Brenner selbst das Fehlen einschlägiger Äußerungen (96), wertet dies aber nicht als Beleg dafür, dass das Judentum während der Revolution ein randständiges Thema gewesen sein könnte. Ersatzweise aufgebotene Passagen aus Tollers Erinnerungen Eine Jugend in Deutschland (1933), verfasst unter völlig anderen persönlichen und politischen Rahmenbedingungen, sagen wenig aus über die Jahre 1918/19. Anhand des Dramas Die Wandlung (1917/18) zeigt Brenner immerhin, dass die Erfahrung des Ausgestoßenseins als Jude Tollers künstlerisches Schaffen prägte (98 f.), ohne diese interessante Beobachtung jedoch in den naheliegenden Kontext der diskriminierenden antisemitischen "Drückeberger"-Kampagne des Ersten Weltkriegs zu stellen.
Mit der These, auch Eisner habe sich "zeitlebens zur jüdischen Gemeinschaft" bekannt (50), stellt Brenner sich gegen Bernhard Graus Befund, dass Eisner sich spätestens seit seiner Heirat mit der Protestantin Lisbeth Hendrich (1892) nicht mehr als Jude verstand [1]. Brenners Argument, das langjährige Engagement gegen den Antisemitismus habe "Eisner an seinem Judentum festhalten" (51) lassen, überzeugt nur bedingt, belegt es doch eher äußerliche Solidarität als innere Identifikation mit der jüdischen Gemeinschaft. Auch der Umstand, dass die "Aufnahmeurkunde in den bayerischen Staatsverband" (1908) und sein "Eintrag im Heiratsregister" (1917) Eisner als "mosaischen Glaubens" ausweisen (50), trägt als Argument nicht weit. Über den Umstand, dass Eisner das Verhältnis des von ihm verehrten Philosophen Hermann Cohen zum Judentum als ein liebevolles beschrieb, spekuliert Brenner, die Beschreibung dürfte Eisners eigenem Verhältnis "nicht ganz so fern gestanden haben, wie es in der Geschichtsschreibung oft dargestellt wird" (53).
In den drei folgenden Kapiteln gilt Brenners Interesse vor allem der "sich rapide ausbreitende[n] antijüdische[n] Stimmung" (116 f.) in München und der Entwicklung "zur Hauptstadt des Antisemitismus in Deutschland" (183) nach dem Ende der Räterepublik. Dicht beschreibt Brenner, wie stark der Antisemitismus - weit über das völkische Lager hinaus - fast alle Gesellschaftsgruppen erfasste und wie rasch sich ältere antijüdische Ressentiments zu rassenideologisch konnotierten Mordphantasien radikalisieren konnten. Den Stand der Forschung erweitert Brenners Arbeit jedoch nicht substanziell. Die Frage, warum es notwendig ist, seitenlang längst bekannte Sachverhalte wie die antisemitische Grundierung der "Ordnungszelle Bayern" unter Gustav Ritter von Kahr, die fatal rechtslastige bayerische Justiz nach 1918 und die Umstände des politischen Aufstiegs Hitlers zu referieren, bleibt ohne Antwort. Hinzu kommt, dass Brenner seine Darstellung antisemitisch motivierter Gewalt zwar durch zahlreiche zeitgenössische Quellen unterschiedlicher Provenienz (Tagebucheinträge, Briefe, Zeitungsartikel, Diplomatische Berichte etc.) anreichert, die konkrete Dimension jener Gewalt jedoch nicht näher sozialgeschichtlich vermisst und die Dokumente nicht nach ihrer spezifischen Aussagekraft befragt. Neues Quellenmaterial zieht Brenner heran, wo es um die Bedeutung des Antisemitismus in der katholischen Kirche geht: Mit den Online-Editionen der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis [2] und der Tagebücher Michael Kardinal von Faulhabers [3] stützt sich Brenner auf Quellen, deren Potenzial die Forschung noch längst nicht ausgeschöpft hat.
Ein grundsätzliches Problem der Arbeit besteht in ihrer fehlenden kritischen Distanz gegenüber literarischen Quellen. Besonders eklatant zeigt sich dies, wenn Brenner wiederholt lange Passagen aus Oskar Maria Grafs Wir sind Gefangene (1927) und Lion Feuchtwangers München-Roman Erfolg (1930) in die Darstellung einfließen lässt, so als handle es sich hierbei um völlig authentische Zeugnisse ohne nachträgliche literarische Stilisierung. Auch wenn Brenner sich auf Josef Hofmillers Revolutionstagebuch 1918/19 stützt, fehlt es an dem nötigen Problembewusstsein dafür, dass Hofmiller seine ursprünglichen Aufzeichnungen kurz vor seinem Tod (1933) "grundlegend redigiert, ausgewählt und neu durchkomponiert" hat [4]. Freilich: Die ungeklärte Frage, ob Hofmillers Aufzeichnungen im Vorfeld der erstmaligen Publikation 1938 noch zusätzlich überarbeitet wurden, muss Brenner nicht beantworten. Quellenkritische Distanz zu einem solchen Text darf und muss aber erwartet werden.
Unstrittig verdienstvoll ist demgegenüber, wie intensiv Brenner die zeitgenössische Presseberichterstattung ausgewertet hat - von völkisch-antisemitischen Elaboraten, über bürgerliche-konservative und liberale Blätter, bis hin zur sozialdemokratischen Presse und der großen Vielfalt jüdischer Zeitungen. Dabei zieht er auch vergleichsweise unbekannte Organe wie den Münchener Stadtanzeiger heran, an dessen Berichterstattung Brenner überzeugend eine sukzessive antisemitische Radikalisierung zeigt. Dass sich die intensive Durchsicht der zeitgenössischen Presse gelohnt hat, lässt sich an mehreren Passagen zeigen. So publizierten 1919 etwa jüdische Zeitungen, um jeden Anschein linkspolitischer Gesinnung zu vermeiden, Wahlaufrufe zu Gunsten der katholischen Bayerischen Volkspartei, ungeachtet der in der Partei grassierenden Judenfeindschaft. So wartet das Buch, trotz der genannten Schwächen, durchaus mit aufschlussreichen Erkenntnissen auf.
Anmerkungen:
[1] Bernhard Grau, Kurt Eisner. 1867-1919. Eine Biographie, München 2017 (Neuauflage), 52.
[2] Vgl. URL: www.pacelli-edition.de.
[3] Vgl. URL: www.faulhaber-edition.de.
[4] So Michael Pilz in seiner instruktiven Doppelbesprechung zweier journalistischer Publikationen zur Revolution 1918/19 aus dem Jahr 2017. Vgl. URL: https://literaturkritik.de/weidermann-traeumer-hoeller-das-wintermaerchen-revolution-als-readers-digest,24078.html [letzter Aufruf 23.8.2019].
Thomas Vordermayer