Empfohlene Zitierweise:

Susanne Lachenicht: Atlantische Geschichte. Einführung, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 11 [15.11.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/11/forum/atlantische-geschichte-245/

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Textes die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Atlantische Geschichte

Einführung

Von Susanne Lachenicht

Nach längerer Pause gibt es in der Novemberausgabe 2019 das sechste, kleine FORUM zur Atlantischen Geschichte, das nun auch wieder regelmäßig erscheinen wird. In der Atlantischen Geschichte hat sich in den letzten Jahren viel getan,[1] der Fokus sich vom nördlichen Atlantik auch mehr in Richtung Karibik, spanischer und portugiesischer Atlantik verschoben bzw. das Interesse liegt zunehmend auch jenseits der Geschichte der europäischen Imperien auf Akteuren wie der indigenen Bevölkerung Amerikas ("Red Atlantic"),[2] Handel und Handelsgütern,[3] Wissen und Wissenschaften,[4] Bakterien und Viren,[5] Umwelt und Ökologie,[6] Identifikationen,[7] Religionen [8] und nicht zuletzt auch auf den atlantischen Biographien [9]. Ein nach wie vor wichtiges Thema ist der Black Atlantic, d.h. die Versklavung und Zwangsmigration von Menschen aus Afrika in die Karibik und größere Teile Nord-, Mittel- und Südamerikas.

Das Interesse an der Atlantic History scheint nicht zuletzt auch im Lichte der Krise der Transatlantischen Beziehungen auf der europäischen und der amerikanischen Seite des Atlantiks gestiegen zu sein, wie u.a. Konferenzen und Tagungsbände zeigen.[10] Atlantische Geschichte wird heute auch als transarea-Historiographie, nicht zuletzt auch in ihren globalen Bezügen verstanden. [11]

Unser kleines Forum präsentiert mit Trevor Burnards und John Garrigus' The Plantation Machine: Atlantic Capitalism in French Saint-Domingue and British Jamaica (rezensiert von Emma Hart, St. Andrews), wie sehr Atlantische Geschichte nicht zuletzt auch eine Meta-Geschichte des Werdens der "modernen Welt" darstellt und wie stark gerade jetzt die Diskussionen um den Zusammenhang von Sklaverei, Moderne und Kapitalismus wieder neu entbrannt sind. Der Band zeigt auch, wie notwendig es ist, für die Metanarrative zur Moderne nicht zuletzt auch auf einer regionalen bzw. vergleichenden Ebene anzusetzen und wie sehr diese Meta-Histories von einer Synthese der Expertisen von unterschiedlichen Historikern profitieren können.

Das erneut große Interesse am Zusammenhang von Ökonomien und Staat, das die Atlantische Geschichte seit den 1950er Jahren geprägt hat, dokumentiert auch der Band von Simon Middleton und James Shaw Market Ethics and Practices, c1300-1850 (ebenfalls rezensiert von Emma Hart, St. Andrews), der sich mit dem Zusammenhang von religiös-moralisch motivierten Imaginationen von Ökonomien und ihren Wirkungen in Staaten und Gesellschaften befasst. Hier handelt es sich also um eine Wirtschaftsgeschichte der Atlantischen Welt, die nach ihren kulturellen, politischen und sozialen Kontexten und Zusammenhängen fragt und sich nicht mit positivistischen Beschreibungen und "Zahlen und Fakten" begnügt. Auch hier geht es um die Genese des Kapitalismus in der Frühen Neuzeit.

Mit Matthew R. Bahars Storm of the Sea: Indians and Empires in the Atlantic's Age of Sail (rezensiert von Sünne Juterczenka, Göttingen) wenden wir uns einem Aspekt des Red Atlantic zu, d.h. der Geschichte der Wabanaki, Gewalt und Widerstand an der Atlantikküste des heutigen Kanadas und der USA. Sie zeigt, wie dies Achim Landwehr so treffend in Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit formulierte, dass jede Gegenwart immer wieder vergessene Geschichte(n) zu reaktivieren vermag. Sie zeigt auch, wie postkoloniale und postmoderne Ansätze in der Geschichtswissenschaft neue Methoden zur Erschließung vergessen geglaubter Geschichte(n) entwickeln hilft und letztendlich dazu beiträgt, Kolonialismus und Imperialismus in ihren Funktionsweisen - gerade auch aus Sicht betroffener indigener Bevölkerungen - besser zu verstehen.

Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre und hoffen, das Interesse an der Atlantischen Geschichte (wieder neu) geweckt zu haben.


Anmerkungen:
[1] Für Entwicklungen im Bereich der Atlantischen Geschichte siehe u.a. auch Susanne Lachenicht: The Summer Academy of Atlantic History (SAAH), The Yearbook of Transnational History 1 (2018), 245-252, und Oxford Bibliographies: Atlantic History, ed. by Trevor Burnard, Ellen Hartigan O'Connor, Susanne Lachenicht, Simon Newman und Cécile Vidal: https://www.oxfordbibliographies.com/browse?module_0=obo-9780199730414.

[2] Siehe u.a. E. E. Andrews: Native Apostles: Black and Indian Missionaries in the British Atlantic World, Cambridge 2013; A. Lipman: The Saltwater Frontier: Indians and the Contest for the American Coast, New Haven 2015.

[3] Siehe u.a. W. J. Bolster: The Mortal Sea: Fishing the Atlantic in the Age of Sail, Cambridge 2012; S. Beckert: Empire of Cotton: A Global History, New York 2014; R. S. DuPlessis: The Material Atlantic: Clothing, Commerce, and Colonization in the Atlantic World, 1650-1800, Cambridge 2016.

[4] Siehe u.a. D. Bleichmar: Visible Empire: Botanical Expeditions and Visual Culture in the Hispanic Enlightenment, Chicago 2012; B. Breen: Tropical Transplantations: Drugs, Nature, and Globalization in the Portuguese and British Empires, 1640-1755, Ph.D. dissertation (University of Texas at Austin, 2015); P. Gómez: The Experiential Caribbean: Creating Knowledge and Healing in the Early Modern Atlantic, Chapel Hill, NC 2017.

[5] Siehe u.a. T. Apel: Feverish Bodies, Enlightened Minds: Yellow Fever and Common-Sense Natural Philosophy in the Early American Republic, 1793-1805, Ph.D. dissertation (Georgetown University, 2012) oder K. Arner: The Malady of Revolutions: Yellow Fever in the Atlantic World, 1793-1828, Ph.D. dissertation (Johns Hopkins University, 2014).

[6] Siehe u.a. J. R. McNeill: Mosquito Empires: Ecology and War in the Greater Caribbean, 1620-1914, New York 2010.

[7] Siehe nicht zuletzt das Thema der European Early American Studies Conference in London 2018: https://warwick.ac.uk/fac/arts/cas/eeasa/conferences/london2018/

[8] Siehe u.a. A.S. Fogleman: Two troubled souls: an eighteenth-century couple's spiritual journey in the Atlantic world, Chapel Hill, NC 2013.

[9] J. A. Fortin / M. Meuwese (eds.), Atlantic Biographies: Individuals and Peoples in the Atlantic World, Leiden 2014; L. A. Lindsay / J. W. Sweet (eds): Biography and the Black Atlantic, Philadelphia 2014.

[10] Siehe beispielsweise Charlotte Lerg / Susanne Lachenicht / Michael Kimmage (eds.): The TransAtlantic Reconsidered, Manchester 2018). Oder auch die letzte Konferenz der Bayerischen Amerika Akademie: https://www.amerikahaus.de/akademie/portfolio/jahreskonferenz/.

[11] Siehe beispielsweise Matthias Middell (ed.): Handbook of Transregional Studies, London 2018 und die letzten drei Summer Academies of Atlantic History (SAAH): https://www.fruehe-neuzeit.uni-bayreuth.de/en/conferences-workshops/Summer-Academy-of-Atlantic-History/index.html.

Rezensionen