Ulrich Niggemann: Revolutionserinnerung in der Frühen Neuzeit. Refigurationen der "Glorious Revolution" in Großbritannien (1688-1760) (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; Bd. 79), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, XIII + 653 S., ISBN 978-3-11-054054-3, EUR 64,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Charlotte Rock: Herrscherwechsel im spätmittelalterlichen Skandinavien. Handlungsmuster und Legitimationsstrategien, Ostfildern: Thorbecke 2016
Annika Tammen: Frühmoderne Staatlichkeit und lokale Herrschaftsvermittlung. Normgebung und Herrschaftspraxis im Herzogtum Holstein des 17. und 18. Jahrhunderts, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2017
Barry Robertson: Royalists at War in Scotland and Ireland 1638-1650, Aldershot: Ashgate 2014
Der Anspruch einer Habilitationsschrift, wie die hier zu besprechende von Ulrich Niggemann, ist das Eröffnen eines neuen Feldes in der Wissenschaft. Niggemann präsentiert dieses neu zu eröffnende Feld "Revolutionserinnerungen" umfassend gleich zu Beginn, und es bleibt abzuwarten, ob hier tatsächlich ein neues Feld begründet werden kann. An manchen Stellen stellt sich nämlich die Frage, inwieweit die Glorious Revolution wirklich ein gewinnbringendes Beispiel für die Etablierung dieses Forschungsfeldes sein kann und ob die Auseinandersetzung mit der Begriffsgeschichte von Revolution nicht vielleicht den Blick auf spezifisch vormoderne Fragestellungen und Erkenntnismöglichkeiten verstellt.
Konkret geht es Ulrich Niggemann um die Untersuchung von Erinnerungskulturen, die spezifisch für Revolutionen sind, und ergänzend dazu um die Korrektur eines vorherrschenden historiographischen Narrativs, das erst die Französische Revolution als "echte" Revolution versteht. Aus der britischen Forschungsdiskussion kommend empfand ich dieses "Abarbeiten" an der angeblich immer noch dominanten Revolutionsmeistererzählung nach Koselleck eher wenig zielführend und hätte mir stattdessen eine stärkere Diskussion der Bezüge zur Erinnerungskultur der britischen Bürgerkriege gewünscht, die erst am Ende der Untersuchung kurz anklingt. Zugegebenermaßen kann aber gerade dieser Ansatz für andere Wissenschaftler die Anknüpfung an Diskussionen außerhalb der Frühen Neuzeit ermöglichen. Niggemann selbst verweist darauf, dass er so ein "spezifisch vormodernes Verständnis von Revolution" aufdecken will (513).
Niggemanns methodische Ansätze, die er zur Erforschung eines so schwammigen Untersuchungsgegenstands wie die Erinnerungskultur von Revolutionen heranzieht, sind anregend und bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte. In vielerlei Hinsicht ist das Thema jedoch nicht nur sehr komplex und sehr abstrakt, sondern auch abhängig von einer extrem genauen Abgrenzung zu anderen Formen der Nutzung von Erinnerungskultur, z.B. einer nationalen, identitätsstiftenden (53). Dabei ist auffällig, wie häufig der Autor erklären muss, was er nicht untersucht und was eben das spezifische Erkenntnisinteresse seines Ansatzes ist. Hier besteht offenbar noch Klärungsbedarf, inwieweit "Revolutionserinnerungen" sich zu einem eindeutig definierten Forschungsfeld entwickeln können.
Die Untersuchung ist chronologisch aufgebaut, so dass eine parallele Analyse der unterschiedlichen Interpretationen (katholisch, hugenottisch, protestantisch, englisch, etc.) möglich ist. Nach einer langen grundlegenden Einleitung und dem Umriss des Forschungsfeldes folgen zwei Hauptteile, zum einen zur "Grundlegung der Revolutionserinnerung" (1688 und Folgejahre) und zum anderen zum "Umgang mit der Revolutionserinnerung" (Mitte der 1690er bis ca. 1760). Damit kann Niggemann die Ausformung der späteren Erinnerungskultur in all ihrer Vieldeutigkeit bereits während der Ereignisse nachweisen und eine Linie von Ereignis zu Erinnerung ziehen. Ein kurzer Schluss bietet eine konzise Zusammenfassung der Ergebnisse und eine Kontextualisierung der Studie in weitere Forschungszusammenhänge. Da zahlreiche Zwischenfazite Detailergebnisse bereits thematisiert hatten, reicht dieser kurze Ausblick auch vollkommen aus.
Es ist ein Verdienst der Arbeit, dass mehrere Deutungsmuster bzw. Erinnerungsmodi hier deutlich identifiziert und definiert werden: providentialistische, konstitutionell-restaurative oder auch widerstandsrechtlich-kontraktualistische, nach 1720 auch ein Diskontinuitätsnarrativ, welches die Glorious Revolution als historische Zäsur betrachtet. Dies ist besonders für die Argumentation, dass bereits die Zeitgenossen nach 1720 das Bewusstsein hatten, in einer revolutionären Ära zu leben bzw. eine Revolution erlebt zu haben, und dass dies durchaus im Sinne einer umfassenden politischen Veränderung begriffen wurde, wichtig. Bereits an diesem Beispiel wird deutlich, dass Niggemann mit seiner Untersuchung zugleich ein umfassendes Bild der politischen Meinungslandschaft in Großbritannien zwischen 1688 und 1760, insbesondere bis etwa 1720, zeichnen kann und damit zur Geschichte der politischen Kultur dieses Zeitraums beiträgt. Niggemann kommt dabei zu dem Ergebnis, dass in den 1690ern zunächst Deutungsmuster der Ereignisse eine große Rolle spielten, die der englischen Bevölkerung eine gewisse Passivität zuschrieben. Erst in der Regierungszeit Annas (1702-1714) fand eine stärkere Diskussion eines Widerstandsrechts in die Erinnerungskultur Eingang. Unter den Hannoveranern nach 1714 war dann vor allem die Deutung der Glorious Revolution als Mittel in der Auseinandersetzung mit jakobitischen Aufständen dominant. Nicht überraschend, aber bei Niggemann gut belegt und analysiert ist dabei seine Betonung der Vielfalt der Erinnerungsmodi und Narrative, die sich einer einfachen Teleologie hin zur Moderne entziehen (510f.). Hier wird auch das Problem der sich überlappenden Deutungsmuster deutlich, die ebenso in den Quellen auftraten. Es ist ein Verdienst Niggemanns, nicht nur darauf hinzuweisen, sondern damit produktiv umzugehen (128, passim), indem er diese Vielgestaltigkeit der Realität immer wieder zum prominenten Thema der Untersuchung macht.
Zur Untersuchung der zeitgenössischen und späteren Erinnerungskultur zieht Niggemann ein beeindruckendes Korpus an Quellen und Literatur heran. Neben dem Umfang ist dabei insbesondere die Vielfalt der Gattungen von Predigten, Pamphleten und Zeitungen über Medaillen und Gemälde bis hin zu Kartenspielen, Gottesdiensten, Festen und Liedern hervorzuheben sowie die wissenschaftlich fundierte und schlicht einfach extrem nützliche Diskussion darüber, wie der Autor mit diesem riesigen Korpus unter Anwendung von sozialwissenschaftlichen Methoden qualitativer Datenanalyse umgegangen ist (54-59). Zudem helfen die zahlreichen Abbildungen, die Argumentation nachzuvollziehen und auf dieser Basis weiter an dem Thema zu arbeiten. Niggemann zeigt, wie eine durchdachte Anwendung von inter- und transmedialen Analysen dazu beiträgt, die narrativen Elemente medienübergreifend zu identifizieren und damit wirklich zu einer umfassenden Erinnerungskultur zu kommen. Er bringt damit einige theoretische Diskussionen zusammen, die inzwischen einigermaßen gefestigt sind (z.B. Erinnerungskultur, Transmedialität, Druckkultur, Narrativität) und zeigt so, was nun auf dieser Basis möglich ist.
Konkret identifiziert Niggemann verschiedene Memoreme (Teilerinnerungen oder Episoden), ihr Framing und wie dieses zur Bildung bestimmter Meistererzählungen oder Deutungsmuster genutzt wurde. Diese überzeugende Verbindung der unterschiedlichen Ebenen von Memoremen zu Frames zu Deutungsmustern (z.B. 213) ermöglicht auch die Dekonstruktion "einer" Erinnerungskultur und das Aufspannen des weiten Spektrums der verschiedenen Stränge und Überlappungen.
Ein Kritikpunkt an der Studie ist, dass aufgrund des Fokus auf die Erinnerungskultur die Rückbindung an die eigentlichen Ereignisse oftmals zu kurz kommt. Jemand, der sich mit der Glorious Revolution oder britischer Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert nicht auskennt, muss sich dieses Wissen erst aneignen, bevor das vorliegende Buch überhaupt verständlich ist. [1] Damit fehlt dann auch eine Diskussion der Ereignisse und Zusammenhänge, die es eben nicht in die Erinnerungskultur geschafft haben, ebenso wie eine Analyse, warum diese Memoreme nicht aufgenommen wurden. Ich denke da z.B. an die zahlreichen Verhandlungsversuche zwischen einigen der sieben Bischöfe und Jakob II. zur Einberufung eines Parlaments, die Verhandlungen zwischen Jakob und Wilhelm nach Salisbury über die Ordnung im Königreich oder generell die Diskussionen in der provisorischen Regierung im Dezember 1688.
Insgesamt betrachtet hat Ulrich Niggemann eine beeindruckende Untersuchung zur politischen Kultur Englands zwischen ca. 1688 und 1760 vorgelegt, die anhand der transmedialen und interdisziplinären Analyse der Erinnerungskultur der Glorious Revolution neue Einsichten bietet. Die bei der Arbeit genutzten Methoden besitzen das Potential, bei einer Anwendung auf andere Forschungsgegenstände ebenfalls interessante Erkenntnisse zu liefern. Niggemanns Studie ist ein eindrucksvoller Beweis dafür, wie gewinnbringend zum einen die Mischung aus quantitativer und qualitativer Quellenanalyse gepaart mit einem breiten Quellenkorpus und zum anderen die Nutzung transdisziplinärer Methoden sein kann. Das Aufschlüsseln des Komplexes "Erinnerungskultur" auf Memoreme, Frames und Deutungsmuster ist ein weiteres Verdienst der Arbeit. Ob sich jedoch Revolutionserinnerung mit all den begriffs- und forschungsgeschichtlichen Implikationen von "Revolution" als fruchtbares Forschungsfeld durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
Anmerkung:
[1] Ich empfehle zum schnellen Überblick und zur Ergänzung Eveline Cruickshanks: The Glorious Revolution. Houndmills (Basingstoke) 2000, oder Raingard Eßer: Die Tudors und Stuarts, 1485-1714. Stuttgart 2004.
Cathleen Sarti