Ksenya Kiebuzinski / Alexander Motyl (eds.): The Great West Ukrainian Prison Massacre of 1941. A Sourcebook, Amsterdam: Amsterdam University Press 2017, 431 S., ISBN 978-90-8964-834-1, EUR 38,95
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In den ersten Tagen nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ermordeten die sowjetischen Sicherheitsorgane des NKVD in den westlichen Gebieten der Sowjetunion viele Tausend Gefängnisinsassen, um zu verhindern, dass sie von den Deutschen befreit würden. Dieser Massenmord in den ersten Tagen des deutsch-sowjetischen Kriegs hatte in der Westukraine ein besonders großes Ausmaß, da hier die deutschen Truppen vergleichsweise langsam vorrückten. Nach Schätzungen des Rezensenten fielen ihm in Ostgalizien bis zu 10.000 und in Wolhynien ungefähr 3.000 Gefängnisinsassen zum Opfer. [1] Ksenya Kiebuzinski und Alexander Motyl nennen in der Einleitung des zu besprechenden Bandes gar mögliche Opferzahlen zwischen 10.000 und 40.000, ohne allerdings klar zwischen der Westukraine und den anderen Gebieten der westlichen Sowjetunion zu unterscheiden (31, 39).
Die Konfrontation mit diesem sowjetischen Massenverbrechen in den ersten Tagen nach der deutschen Besetzung der Westukraine Anfang Juli 1941 war insbesondere für die ukrainische Bevölkerung ein Schock, da die Mehrheit der ermordeten Gefängnisinsassen - die Herausgeber des Bandes schätzen siebzig Prozent - Ukrainer waren (40). Dieser Schock war umso größer, als viele der meist durch Genickschüsse getöteten Menschen in den Gefängnissen einen entsetzlichen Anblick boten. Vor dem Hintergrund einer in den erst 1939/40 der Sowjetunion angeschlossenen westlichen Gebieten weit verbreiteten Beurteilung von Juden als Unterstützern und Nutznießern der sowjetischen Herrschaft kam es bei der Bergung der Leichen in einer Reihe von Orten zu pogromartigen Ausschreitungen gegen Juden. Sie standen meist damit in Zusammenhang, dass im Auftrag der deutschen Ortskommandanturen ukrainische Milizen und Einwohner Juden zu den Gefängnissen trieben, in denen sie dann die Leichen bergen mussten.
Anders als beispielsweise der sowjetische Massenmord an polnischen Offizieren in Katyn' und an anderen Orten im Frühjahr 1940 geriet die massenhafte Liquidierung von Gefängnisinsassen nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend in Vergessenheit. Nur in der ukrainischen Diaspora erschienen hierzu einige wenige Veröffentlichungen. Erst in den 1990er-Jahren wurde dieses Verbrechen in der Ukraine und in Polen umfassender dokumentiert, allerdings weiterhin nicht wirklich erforscht. [2]
Eine vertiefte geschichtswissenschaftliche Behandlung dieses Themas wäre daher hochwillkommen. Leider leistet der hier zu besprechende Band dies nur sehr bedingt, da er keine weitere Forschung zum Thema, sondern nur Auszüge aus älteren geschichtswissenschaftlichen Arbeiten und Quellen enthält, die ebenfalls bis auf wenige Ausnahmen - vor allem internationale Zeitungsberichte aus dem Sommer 1941 - aus älteren Quellensammlungen übernommen wurden.
Darüber hinaus enthält der Band auch eine Reihe von Bildquellen sowie interessante Hinweise zu ihrer internationalen Rezeption im Sommer 1941 (399 f.). Jedoch scheint den Herausgebern die im Zusammenhang mit den Kontroversen über die "Wehrmachtsausstellung" Ende der 1990er-Jahre geführte Diskussion über diese Bilder nicht bekannt zu sein. Sonst hätten sie erkennen können, dass ein Foto aus Zoločiv (Abbildung 22) nicht ermordete Gefängnisinsassen, sondern bei deren Exhumierung getötete Juden zeigt.
Leider haben die Herausgeber die Materialien zudem in den Originalsprachen belassen, sodass der Band neben englischen auch deutsche, polnische, russische und ukrainische Texte enthält. Die Nutzbarkeit beispielsweise für Lehrveranstaltungen ist dadurch beträchtlich eingeschränkt, und auch nur wenige am Thema interessierte Leser dürften die verschiedenen Sprachen beherrschen. Für Forscher, die dieses Thema aufgreifen möchten, stellt der Band zweifellos einen nützlichen Ausgangspunkt dar. Sie werden aber auch auf die Publikationen zurückgreifen müssen, aus denen die hier veröffentlichten Materialien übernommen wurden.
Die Einleitung enthält neben einer Einführung in frühere Veröffentlichungen eine längere Diskussion des Zusammenhangs zwischen dem sowjetischen Massenmord und den antijüdischen Gewalttaten in der Anfangsphase der deutschen Okkupation (42-65). Leider kommen die Herausgeber hier aus Sicht des Rezensenten nicht zu überzeugenden Ergebnissen. Dies betrifft vor allem zwei Punkte. Zum einen halten sie Berichte darüber, dass die Gefängnisinsassen von den Sowjets auf grausame Weise zu Tode gefoltert und Leichen in großem Umfang verstümmelt worden seien, für glaubhaft (32, 50, 61 f.). Tatsächlich zeigt eine genaue Analyse der Geschehnisse, dass dieser Eindruck in erster Linie durch hitzebedingte Verwesungserscheinungen an den durch Genickschüssen getöteten Leichen entstand. [3] Die Gerüchte über Grausamkeiten und Verstümmelungen standen vielmehr mit Bildern über das sowjetische Regime als einer diabolischen Macht im Zusammenhang. Manche wiesen deutliche Parallelen zu christlichen Ritualmordlegenden auf und gehören deshalb zum Hintergrund der Pogromgewalt. Die zweite fehlerhafte Deutung der antijüdischen Gewalt in der Einleitung besteht aus Sicht des Rezensenten darin, dass die Herausgeber der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) hierbei keine wesentliche Rolle zuschreiben (57-60).
Insgesamt greift der Band ein wichtiges Thema auf, das auch in der internationalen Geschichtsschreibung größere Beachtung verdienen würde. Es ist zu hoffen, dass der Band dafür einen Anstoß gibt.
Anmerkungen:
[1] Kai Struve: Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine, Berlin 2015, 214 ff.
[2] Am umfassendsten ist dieses Thema bisher für die gesamte westliche Sowjetunion von Bogdan Musial: "Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen". Die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941, Berlin 2000, behandelt worden, dessen Arbeit allerdings unter einer nicht überzeugenden Verbindung mit der Deutung der Pogrome und der folgenden deutschen Herrschaft in der Sowjetunion leidet.
[3] Struve (wie Anm. 1), 218-221, 271-288.
Kai Struve