Eike Wolgast (Hg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Zweiundzwanzigster Band: Nordrhein-Westfalen II. Das Erzstift Köln. Die Grafschaften Wittgenstein, Moers, Bentheim-Tecklenburg und Rietberg. Die Städte Münster, Soest und Neuenrade. Die Grafschaft Lippe (Nachtrag) (= Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts; Bd. 22), Tübingen: Mohr Siebeck 2017, XIV + 622 S., eine Kt., ISBN 978-3-16-155139-0, EUR 199,00
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Nach dem Band 21 der Reihe, die vor allem die stark von den Herzogtümern Jülich-Kleve-Berg beeinflussten kirchlichen Ordnungen und Erlasse präsentiert, bildet der zweite Band über die Kirchenordnungen in Territorien des heutigen Bundeslandes NRW eine vielseitigere religiöse Landschaft ab. In den behandelten westfälischen Gebieten setzten sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts langsam Formen eines reformiert-calvinistischen Glaubens- und Kirchenverständnisses durch, die die Religionspolitik dieser Territorien in ein Spannungsverhältnis nicht nur zu den katholischen, sondern auch zu den lutherischen Nachbarn brachte.
Der Band beginnt mit einem kurzen Abschnitt über Kurköln, wo die bekannten Versuche der Einführung des Protestantismus in den 1540er und den 1580er Jahren durch die Erzbischöfe Hermann von Wied und Gebhard Truchsess von Waldburg am Widerstand des Kaisers, Roms und regionaler Kräfte scheiterten. Nur drei kurze Edikte dokumentieren diese Versuche, zur Ausarbeitung einer vollständigen Kirchenordnung ist es beide Male nicht gekommen. Die Bearbeiterin weist in der Einleitung ergänzend auf die modernen Editionen anderer Textquellen zu diesen Reformationsversuchen hin, insbesondere auf das von Bucer und Melanchthon verfasste "Einfaltige Bedenken" von 1543 sowie zahlreiche lokale städtische Ordnungen.
Mit der Grafschaft Wittgenstein beginnt dann der Reigen der Kirchenordnungen westfälischer Territorien, die den Großteil des Bandes ausmachen. Insgesamt 18 Texte zwischen 1555 und 1611 zeigen die umfangreiche kirchenpolitische Tätigkeit der Wittgensteiner Grafen auf, inklusive der Edikte für deren oberbergische Herrschaft Homburg. Seit 1568 näherte sich das Grafenhaus unter kurpfälzischem Einfluss dem Reformiertentum und erließ zahlreiche Edikte, die kirchliche Zeremonien, aber auch die Kirchenzucht neu regelten. Besonders bemerkenswert sind einige Bestimmungen, die sich gegen die Täufer richteten und deren friedliche Integration in die Kirchengemeinden zum Ziel hatten.
Die Grafschaft (Krefeld-) Moers, früh lutherisch geworden und seit 1578/81 unter Nassauer Einfluss reformiert-calvinistisch, ist mit sechs Texten präsent, darunter die umfangreiche Kirchenordnung von 1581. Durch Schenkung der kinderlosen Witwe des letzten Grafen kam die Grafschaft an das Haus Oranien, gestützt durch die Anwesenheit niederländischer Truppen. Moritz von Oranien ordnete einen eigenen Synodalverband für die Grafschaft an, der bis in die preußische Zeit hinein wirkte und die einzige obrigkeitlich geführte reformierte Kirchenleitung eines rheinischen Territoriums war. Die religionspolitische Entwicklung der westfälischen Grafschaft Bentheim-Tecklenburg verlief ähnlich, allerdings etwas zeitversetzt: einer frühreformatorischen Phase ab 1527 folgte eine Hinwendung zum Reformiertentum in den 1580er Jahren. Die Edition bietet den Text der Kirchenordnung von 1543 sowie zahlreiche Einzeledikte aus den Jahren 1585-1619. Die Grafschaft Rietberg hingegen, in der sich seit den 1530er Jahren reformatorische Einflüsse bemerkbar machten, wandte sich obrigkeitlich erst 1562 der neuen Lehre zu. Durch Einheirat des Grafenhauses Hoya wurde der Protestantismus zunächst stabilisiert, allerdings geriet die Grafschaft durch Erbteilungen um 1600 in die Hände katholischer Landesherren, die eine Rekatholisierung durchführten. Die Edition konzentriert sich daher auf nur zwei Texte aus den 1560er Jahren. In einem Nachtrag zum Band NRW I (Bd. 21 der Gesamtreihe) wird schließlich ein Formular zur Deutschen Messe aus der Grafschaft Lippe abgedruckt, das zwischen 1525 und 1538 entstanden ist.
Ein zweiter, 180 Seiten umfassender Teil des Bandes bietet Texte aus der Geschichte der westfälischen Stadtreformationen in Münster, Soest und Neuenrade. Die Quellen zur Münsteraner Reformation betreffen die Jahre unmittelbar vor und während der Täuferherrschaft 1531-1534, darunter das städtische Duldungsmandat der Täufer vom 31. Januar 1534 und das darauf folgende bischöfliche Verbot vom 3. Februar. Langfristig wesentlich bedeutsamer als das kurzzeitige radikale Experiment in Münster war die lutherische Konfessionalisierung in der Stadt Soest, die auf über 100 Seiten mit 13 Texten aus den Jahren 1532 bis 1619 dokumentiert wird. Die Stadt hatte eine autonome Stellung innerhalb der Grafschaft Mark und erkannte den Herzog von Jülich-Kleve-Berg als Schutzherrn an. Gegen dessen hinhaltenden Widerstand erzwangen die Zünfte eine Abkehr von den Kölner Diözesanrechten und die Einführung lutherischer Messe und Predigt. Der städtische Rat sanktionierte dies in der Kirchenordnung von 1532, die in der Grafschaft Mark Vorbild auch für andere Landstädte wurde. Nach einem vorübergehenden Rückschlag durch das Interim kehrte man zum lutherisch geprägten Kirchenwesen zurück. Armen-, Ehe- und Patenordnungen regelten in den 1580er Jahren weitere Alltagsbereiche. Die politische Unsicherheit im Jülich-Klevischen Erbfolgestreit veranlasste den Rat 1609 zur Ausarbeitung einer erneuerten Kirchenordnung, die sich an mecklenburgischen und kursächsischen Vorlagen orientierte und der Konkordienformel entsprach. Während sich andere märkische Städte im Windschatten der reformkatholischen Jülich-Klevischen Kirchenordnung von 1533/34 hielten und formal landesherrlichen Vorgaben folgten, erließ der Stadtrat von Neuenrade am 21. Mai 1564 eine umfangreiche (in Niederdeutsch verfasste) Kirchenordnung, die von dem in der Stadt geborenen Heidelberger Universitätsrektor Hermann Wilcken (1522-1603) erarbeitet worden war. Diese trug bereits reformiert-calvinistische Elemente in sich, bevor sich der Stadtprediger 1573 öffentlich diesem Bekenntnis anschloss.
Wie alle in dieser Reihe hat auch dieser Band einen vorbildlichen textkritischen Apparat, der Schreibvarianten bietet sowie auf textliche Übernahmen aus vorhergehenden Ordnungen verweist. Die Kommentierung erläutert Begriffe und Personennamen und bietet spezialisierte Literaturhinweise. Das ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnis (25 Seiten!) zeugt von der exzellenten Beherrschung der Forschungslage durch die Bearbeiterin. Ein umfangreiches Glossar niederdeutscher Wörter sowie detaillierte Register zu Bibelstellen, Personen, Orten, Gesängen und Sachen beschließen den Band.
Das Erscheinen des Bandes darf Anlass für eine kurze Würdigung des Gesamtunternehmens sein, dessen Wurzeln ins späte 19. Jahrhundert zurückgehen. Unter dem Vorzeichen der religionsgeschichtlichen Forschung der letzten Jahre mag Skepsis aufkommen, ob die Konzentration auf normative Ordnungen ein überkommenes älteres Bild protestantischer Kirchengeschichtsschreibung reproduziert. Auch hat die Kritik bezüglich eines überzogenen Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung sowie die neuere Sicht auf die Ambiguität des Religiösen in der frühen Neuzeit zu Neuausrichtungen des Themeninteresses geführt. Gerade der vorliegende Band bietet hier jedoch vielfältige Anknüpfungspunkte für neuere Fragestellungen. Die Quellen des Bandes verweisen auf die besondere Entwicklung im Nordwesten des Reiches, in der sich die Reformation oft erst spät, dann aber mit Dynamik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durchsetzte, häufig verbunden mit einem Übergang zu reformiert-calvinistischen Religions- und Kirchenformen. Die Entwicklung war zusätzlich durch ein Neben- und Miteinander adlig-landesherrlicher und bürgerlich-städtischer Reformation gekennzeichnet: die Lippische Zuchtordnung von 1542 beispielsweise weist eindeutig Parallelen zum städtischen Münsteraner Text von 1533 auf (341). Die Versuche zur Normendurchsetzung in den Kirchenordnungen geschahen also durchaus nicht stromlinienförmig, sondern in Konkurrenz zueinander. Die Texte beschäftigen sich auch nicht nur mit den üblichen Fragen der Kirchenorganisation, den Vorschriften zu Gottesdienst, Schule, Armenversorgung etc., sondern betreffen auch zahlreiche Regelungen des Alltagslebens oder auch das Liedgut. Über die Normenregelung hinaus wären hier also auch Fragestellungen zu konfessionskirchlichen Kulturwirkungen möglich. Daher ist es konsequent, dass in den jüngst erschienen Bänden der Reihe auch Textstellen aus Polizeiordnungen aufgenommen wurden. Religionspolitik darf nicht mit religiösem Alltag verwechselt werden, aber irrelevant war sie auch nicht.
Stefan Ehrenpreis