Josef Wilhelm Knoke: Zwischen Weltwirtschaft und Wissenschaft. Der Unternehmer und Wirtschaftsbürger Henry Theodor von Böttinger (1848-1920), Essen: Klartext 2019, 352 S., 64 s/w-Abb., ISBN 978-3-8375-2069-9, EUR 39,95
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Henry Böttinger (ab 1907: von Böttinger) als typischen deutschen Industriellen zu bezeichnen, scheitert schon daran, dass er 1848 in England geboren wurde, wenn auch als Sohn deutscher Eltern. Seine Ausbildung absolvierte Henry Böttinger sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland. Nach dem Tod des Vaters 1874 übernahm er die ererbte Brauerei "Würzburger Hofbräu" und entschied sich damit für eine Zukunft im nur drei Jahre vorher gegründeten Deutschen Reich.
Diesen Entschluss bezeichnet Josef Wilhelm Knoke in der vorliegenden Biografie, die eine gekürzte Version seiner 2016 in Düsseldorf abgeschlossenen Dissertation ist, als eine der "zwei entscheidende[n] Weichenstellungen" (283) im Leben Böttingers. Die zweite stellt in den Augen Knockes die Heirat mit Adele Bayer 1878 dar, die dazu führte, dass Henry Böttinger 1883, nach dem Tod des Schwiegervaters, in das von diesem mitbegründete Chemieunternehmen "Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co." (FFB) eintrat und nach Wuppertal-Elberfeld umzog. Böttingers Karriere in den folgenden Jahrzehnten war eng verbunden mit dem rasanten Aufstieg der FFB und der chemischen Industrie in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg.
Die Leitung der FFB lag in diesen Jahren des Booms in den Händen von Männern wie Friedrich Bayer jun., Carl Rumpff, Carl Hülsenbusch oder Carl von Gamp und vor allem Carl Duisberg, der 1912 zum Generaldirektor des Unternehmens und 1925 zum Aufsichtsratschef der von ihm mit gegründeten I. G. Farbenindustrie AG aufsteigen sollte. In der vorliegenden Arbeit wird einmal mehr deutlich, dass die Verengung auf Duisberg der Entwicklung der FFB nicht gerecht wird. [1]
Henry Böttinger übernahm in diesem Team vor allem die Vertretung nach außen, reiste schon 1888/89 das erste Mal um die Welt und baute internationale Dependancen des Unternehmens auf. Doch sein Wirkungskreis beschränkte sich nicht nur auf das Ausland - auch in Deutschland wurde er zum Gesandten des Unternehmens, beispielsweise als Abgeordneter des Preußischen Herrenhauses, wo sich Böttinger unter anderem für die Einführung der Sommerzeit in Deutschland einsetzte (177 f.). Seine Argumente, durch bessere Ausnutzung des Tageslichts Energie einzusparen und mehr Erholungszeit für die Arbeitnehmer nach Feierabend zu erreichen, waren ganz offensichtlich von seinen Erfahrungen als Unternehmer und den Bedürfnissen seines Unternehmens geprägt.
Eingestreute Schilderungen wie diese zeigen zwei Stärken der vorliegenden Biografie: Zum einen versteht es Knoke, die Lebensgeschichte seines Protagonisten anschaulich und interessant zu erzählen, zum anderen belässt er es nicht bei der reinen Darstellung. So erwähnt der Autor nicht nur die Tatsache, dass von Böttinger 1908 "aus allerhöchstem Vertrauen", also direkt durch Wilhelm II. (198), in das Preußische Herrenhaus berufen wurde, sondern ordnet diesen mit der vorausgehenden Nobilitierung beginnenden Prozess auch historisch und politisch ein.
Wichtig, auch für sein Unternehmen, waren Henry Böttingers Kontakte in die Wissenschaft. 1894 wurde er zweiter Vorsitzender der Deutschen Elektrochemischen Gesellschaft, der heutigen Deutschen Bunsen-Gesellschaft für Physikalische Chemie, deren Präsident der Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald war. 1898 gehörte Böttinger zu den Mitgründern der "Göttinger Vereinigung", der er sich intensiv widmete und deren ersten Vorsitz er bis zu seinem Tod innehatte. Ähnlich war dies bei der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, an deren Gründung Böttinger ebenfalls beteiligt war und deren Senator er wurde. Zudem engagierte er sich etwa für die Luftfahrtforschung oder auch für den Bau eines Studienhauses in Göttingen, in dem Ausländer durch Sprachunterricht auf das Studium in Deutschland vorbereitet wurden.
Dieser Einsatz verdeutlicht nicht nur Böttingers Internationalismus, sondern auch sein soziales Engagement und Mäzenatentum. Dabei konnte er sich Großzügigkeit durchaus leisten, da er mit einem mehrstelligen Millionenvermögen und einem Einkommen ebenfalls in Millionenhöhe ohne Frage "zur finanziellen Oberschicht des deutschen Reiches" (204) gehörte.
Zu dieser Einschätzung gelangt Knoke in einem recht umfangreichen Kapitel über Böttingers "Lebenslage und Lebenswelt" (198-265), das - inklusive der Beschreibung seiner verschiedenen Wohnhäuser und diverser Vergnügungen wie die Aufführung von Theaterstücken im Familienkreis - gute Einblicke in ein großbürgerliches Leben um die Jahrhundertwende bietet. Illustriert werden diese Einsichten durch zahlreiche Bilder im Text und im Anhang.
Demgegenüber kommen die politisch wichtigen Phasen in der vorliegenden Biografie allerdings etwas zu kurz; so sind den Kriegs- und Nachkriegsjahren nur wenige Seiten gewidmet, obwohl, wie Knoke selbst schreibt, von Böttinger in diesen Jahren intensive "Lobbyarbeit" (271) in Berlin betrieb. Auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs reagierte von Böttinger wie sein Kollege Carl Duisberg [2] zwar "sorgenvoll" (269), zusammen waren die beiden dann freilich bemüht, zuerst den Betrieb der FFB aufrechtzuerhalten und schließlich - mit zunehmender Dauer des Kriegs - die Firma auf militärische Produkte umzustellen.
Knokes Schwerpunkt liegt also mehr auf dem "Wirtschaftsbürger" als auf dem "Unternehmer" von Böttinger, so die beiden Bezeichnungen, die der Biograf für den Untertitel seines Werks gewählt hat und die er in der Einleitung intensiv diskutiert. Sein Vorhaben, von Böttinger "als einen Teil größerer Zusammenhänge einer Zeitperiode" zu beschreiben (23), gelingt Knoke zwar weniger im Hinblick auf die politischen Geschehnisse, dafür aber sehr gut im Hinblick auf das "enge [...] Beziehungsgeflecht" (287) der Eliten des Reichs in Gesellschaft und Wissenschaft.
Anmerkungen:
[1] Werner Plumpe: Carl Duisberg 1861-1935. Anatomie eines Industriellen, München 2016, spricht sogar von der "Bayer-Familie", 88-105.
[2] Kordula Kühlem (Bearb.): Carl Duisberg (1861-1935). Briefe eines Industriellen, München 2012, 8.
Kordula Kühlem