Andrea Rudorff (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942-1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, 883 S., ISBN 978-3-11-036503-0, EUR 59,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Klaus-Michael Mallmann / Bogdan Musial (Hgg.): Genesis des Genozids. Polen 1939-1941, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004
Kristin Platt: Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit. Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten-Verfahren, München: Wilhelm Fink 2012
Salmen Gradowski: Die Zertrennung. Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos. Hrsg. von Aurélia Kalisky unter Mitarbeit von Andreas Kilian. Aus dem Jiddischen von Almut Seiffert und Miriam Trinh, 2. Aufl., Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2020
Von der auf 16 Bände angelegten Großedition zum Holocaust sind inzwischen zwölf erschienen. Und wie bisher erfüllt auch der vorliegende Band - recht eigentlich handelt es sich dabei um zwei separate und nur sehr lose miteinander verbundene Teile, von denen Auschwitz etwa zwei Drittel, die Todesmärsche ein Drittel einnehmen - wieder allerhöchste Erwartungen an die editorische Qualität. Er firmiert als letzter Band in der Serie und steht ein wenig quer zu den jeweils einzelnen Ländern gewidmeten bisherigen Büchern. Warum dieses Prinzip aufgegeben wurde, erschließt sich nicht. Formal ist es wenig konsequent, denn selbstverständlich ließe sich das Geschehen an diesem Ort dem besetzten Polen zurechnen oder aber den jeweiligen Ländern, aus denen die Opfer stammten; ähnliches gilt cum grano salis auch für die Todesmärsche. Letztendlich sollte man auch nicht mit der Bedeutung von Auschwitz argumentieren, denn diese ist ganz wesentlich eine nachträgliche Zuschreibung und entspricht heutigen Bedürfnissen nach Symbolen. Die gigantisch hohe Zahl der dort verübten Morde ist nur ein Teil des Holocaust, und wieso 1,1 Millionen Tote einen eigenen Band rechtfertigen, aber etwa die annähernd 900 000 Toten in Treblinka oder die Opfer der Einsatzgruppen in der Sowjetunion nicht, bleibt eine offene Frage.
Die Edition beschränkt sich auf zeitgenössische Dokumente und versagt sich damit Quellen aus der Nachkriegszeit wie etwa Ermittlungsakten, Memoiren, archäologischen Befunden oder dergleichen. Das kann man so machen, es folgt zumindest einer gewissen Konsequenz im Vorgehen. Weniger überzeugend ist der Verzicht auf fotografisches Material (lediglich ein Dokument ist faksimiliert und es wird ein gezeichneter Plan der Krematorien aus Auschwitz abgedruckt), denn nicht erst seit dem iconic turn sind Bilder eine wichtige Quelle für die Geschichtswissenschaft. Das berühmte Auschwitz-Album, inzwischen in vielen Sprachen herausgegeben [1], ist der wohl nachdrücklichste Beleg für die Normalität des Täteralltags, während die Fotografien des Sonderkommandos zu Ikonen des Selbstbehauptungswillens selbst unter Extrembedingungen geworden sind: Die Häftlinge, die die Krematorien bedienen mussten, machten ihre Aufnahmen des Massenmords mit einer gefundenen Kamera, bei der sie den Selbstauslöser bedienten und sie dann zum Fenster hochwarfen.
Diese Leerstelle ist vielfach bei den bereits vorliegenden Bänden moniert worden, was dem Herausgeber-Gremium durchaus ein Gegensteuern ermöglicht hätte. Die Herausgeber blieben jedoch der "klassischen" Edition verpflichtet, was seinen Ausdruck auch im Fehlen einer Online-Ausgabe findet. Dies ist umso bedauerlicher, als damit die pädagogische Breitenwirkung dieses wissenschaftlichen und dokumentarischen Meilensteins einer unverständlichen Selbstbeschränkung unterliegt. So gibt es den merkwürdigen Kontrast, dass professionelle Lesungen aus den vorliegenden Bänden sogar im Radio veranstaltet werden und man an einer englischen Übersetzung arbeitet, aber zugleich an hochpreisigen Printprodukten festhält, die vor allem von Bibliotheken gekauft werden.
Diese konzeptionellen Gesichtspunkte haben natürlich nichts mit der Güte von Andrea Rudorffs Arbeit zu tun. Ihre kundige Einführung leistet eine souveräne Orientierung innerhalb der mittlerweile umfangreichen Literatur zu Auschwitz und gibt wichtige Hinweise zu den verschiedenen im Band dokumentierten Themenkomplexen - etwa zum Bau und zur Stellung des Lagers innerhalb des Holocaust, zu den Wahrnehmungen und Reaktionen der Häftlinge sowie zu deren Arbeitseinsatz, zum Informationsfluss aus dem Lager bis in die Weltöffentlichkeit - und deren Reaktion -, zu pseudomedizinischen Versuchen oder zu den Tätern und "Zuschauern".
Die Todesmärsche, die ja auch mit Fuhrwerken, Eisenbahn oder Lastern stattfanden, sind ebenfalls in ihrer ganzen Komplexität abgebildet: Entscheidungsprozesse, die Rolle der Zivilbevölkerung und lokaler Behörden, die Situation der Häftlinge oder die unterschiedlichen Bedingungen im Osten und Westen sind berücksichtigt. Die größte Stärke der Edition liegt in der Verbindung von kompetenter Zusammenfassung des Forschungsstandes mit 289 in Hinblick auf Form, Inhalt und Verfasser repräsentativen Quellen aus allen erdenklichen Herkunftskontexten. Die enorme Arbeit, die dahinter steckt, verdeutlichen die über 50 Archive, aus denen Material abgedruckt wird. Dass dies mit der gebotenen Sorgfalt, mit hervorragenden Übersetzungen sowie unter Einbeziehung eines Personen-, Orts- und Sachregisters geschieht, ist bei der Reihe üblich, aber dennoch immer wieder zu loben. Das gilt ebenfalls für die Annotation der Dokumente selbst, die einmal mehr höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.
Das Buch und die ganze Reihe sind schon von ihrer Anlage her nicht nur für Holocaust-Forscher und -Forscherinnen gemacht. Ganz im Gegenteil wird gerade Nicht-Spezialisten der Zugang zu diesem manchmal sehr sperrigen Gegenstand ermöglicht und erleichtert, weshalb sich die Verwendung in der Lehre zum Einüben eines kritischen Umgangs mit Dokumenten ebenso anbietet wie als Referenzwerk in der Forschung. Verständlich ist auch, dass die Herausgeber in der Reihe zudem einen Textkorpus gegen das Vergessen, eine Art gedrucktes Gedenken sehen möchten, was schon der schiere Umfang des Projekts nahelegt. Und tatsächlich handelt es sich bei Rudorffs Band um ein Werk, auf den das oft zu leichtfertig benutzte Prädikat "Standardwerk" voll und ganz zutrifft: Wer sich mit Auschwitz und den Todesmärschen beschäftigen möchten, muss dies künftig auf Grundlage des vorliegenden Buches tun - nicht nur, weil es so viel Material teils neu erschließt, sondern auch, weil es für Gedenken und Erinnerung jenseits von Filmen wie "Schindlers Liste" normativ ist.
Anmerkung:
[1] Serge Klarsfeld (ed.): The Auschwitz Album. Lili Jacob's Album, New York 1980; deutsche Fassung: Hans-Jürgen Hahn (Hg.): Gesichter der Juden in Auschwitz. Lili Meiers Album, Berlin 1995. Siehe jetzt auch Christophe Busch / Stefan Hördler [u.a.] (Hgg.): Das Höcker-Album. Auschwitz durch die Linse der SS, Darmstadt 2016.
Stephan Lehnstaedt