Florian Reichenberger: Der gedachte Krieg. Vom Wandel der Kriegsbilder in der militärischen Führung der Bundeswehr im Zeitalter des Ost-West-Konflikts (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland; Bd. 13), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, XI + 498 S., 5 Abb., ISBN 978-3-11-046260-9, EUR 49,95
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Über 30 Seiten braucht der Autor dieses Bandes für die Begriffsbestimmung seines zentralen Terminus "Kriegsbild". Aber das ist lohnende Lektüre. Denn im ersten Teil dieses in jeder Hinsicht gewichtigen Buchs, das aus einer Potsdamer Dissertation bei Michael Epkenhans und Loretana de Libero hervorgegangen ist, bietet Florian Reichenberger, ein Berufsoffizier der Bundeswehr mit geschichts- und sozialwissenschaftlichem Studium, anregende Gedanken zu Geschichte und Gebrauch des Begriffs, zu den Eigentümlichkeiten von Kriegsbildern sowie den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Erfassbarkeit. Zutreffend war allerdings der Hinweis von General a.D. Helge Hansen, dienstlich in den 1970er Jahren selbst intensiv mit Strategiefragen befasst, bei der Buchvorstellung im Bundespresseamt Ende 2018 auf einen inneren Widerspruch: Bild ist ein statischer Begriff, der Krieg ist von Dynamik bestimmt.
Jedenfalls gelangt der Autor zu der - an Wolf Graf von Baudissin angelehnten - Arbeitsdefinition: "Ein Kriegsbild bezeichnet eine Grundvorstellung vom Wesen eines künftig möglichen Krieges, d.h. von dessen Erscheinungsformen sowie von den Zwecken, den Möglichkeiten, den Mitteln, der Ausdehnung, der Intensität und den Auswirkungen der Kriegführung". (50)
In der Einleitung des Buches, dessen Quellen- und Literaturbasis äußerst eindrucksvoll ist, werden die Relevanz der Fragestellung, Forschungsstand und Quellenlage gründlich dargelegt und die interdisziplinäre Methodik erläutert. Im Hauptteil geht es, so der Untertitel, um den "Wandel der Kriegsbilder in der militärischen Führung der Bundeswehr im Zeitalter des Ost-West-Konflikts". Aber auch diesem zentralen Kapitel ist ein fast 60 Seiten langes vorangestellt, das die Entwicklung von Kriegsbildern bei den deutschen Militäreliten von 1871 bis 1945 reflektiert (Idealvorstellungen vor dem Ersten Weltkrieg, dessen ernüchternde Realität, Konzepte beweglicher Operationsführung, Blitzkrieg und Volkskrieg in der Zwischenkriegszeit sowie die Tragödie des Zweiten Weltkriegs).
Dies macht Sinn, weil der Autor so einerseits die Kriegsbilder während des Kalten Krieges in einen größeren Zusammenhang stellt und weil er andererseits Kriegsbilder als Individualvorstellungen interpretiert, die "nur über die führenden Köpfe in den Militäreliten erschlossen werden" könnten. (422) In den frühen Jahren der Bundeswehr waren dies nicht zuletzt die Generale Adolf Heusinger, Hans Speidel und Baudissin, deren prägende Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg (Vernichtungsfixierung, gravierende strategische Fehler, Vernachlässigung der Logistik) für die ersten Überlegungen zur Wiederbewaffnung bestimmend waren. Ausgehend von solch ideengeschichtlicher und biographischer Orientierung wird ein sehr breiter methodischer Ansatz gewählt und plausibel erklärt, der mentalitäts-, sozial- und gesellschaftsgeschichtliche Aspekte ebenso einbezieht wie operations-, institutions- und organisationsgeschichtliche - bis (etwas weit hergeholt) zum iconic turn hinsichtlich des Paradigmas Bild.
Herausgekommen ist in überzeugender Weise eine "breite, interdisziplinär angelegte Analyse von Perzeptionsverläufen in der westdeutschen Militärführung". (7) Hauptsächliche Herausforderung für den Autor war die Frage nach Zeitpunkten, Gründen bzw. Anlässen und dokumentarischen Nachweisen für qualitative Veränderungen des jeweils leitenden Kriegsbildes - als Voraussetzung für die Analyse von Wandel.
Das erste Kriegsbild entfaltete sich in Denkschriften der Generale Speidel und Heusinger (letzterer war langjähriger Chef der Operationsabteilung im Oberkommando des Heeres). Es war im Gegensatz zu Alternativvorstellungen infanteristischer Kleinkriege "kampfpanzerlastig" - deutlicher Ausdruck von Kontinuität und trotz der zu Kriegsende erfolgten Atomwaffeneinsätze in Hiroshima und Nagasaki geprägt von der Vorstellung mechanisierter Landschlachten. Dies reflektierte prägende Erfahrungen und Analogien, wurde in der Himmeroder Denkschrift von 1950 verankert und diente mit dem Schwerpunkt auf grenznaher "Vorwärtsverteidigung" Reichenberger zufolge auch "westdeutscher Souveränitätspolitik".
Die erste "Zäsur" ergab sich aus der Einbeziehung von taktischen Nuklearwaffen in die Verteidigungsplanungen der NATO Mitte der 1950er Jahre. Das bedeutete für Westdeutschland das Dilemma zwischen Schutz und potentieller Zerstörung. In den folgenden Jahren erhielt die Bundeswehr nuklearwaffenfähige Systeme. Öffentliche Äußerungen der Generale Gerd Schmückle und Graf Baudissin 1962 trugen dazu bei, "den Atomfatalismus als Bewusstseinslage zu überwinden". (427) Dies wurde vom neuen Generalinspekteur Heinz Trettner 1965 aufgenommen. Die nächste Zäsur wurde allerdings aus den USA in die NATO getragen; nach den "Athener Richtlinien" von 1962 sollten Nuklearwaffen als politische Mittel eingestuft werden. Eine "Rekonventionalisierung" des Kriegsbilds nahm ihren Lauf, im Einklang mit der 1968 in der MC 14/3 kodifizierten Strategie der Flexible Response. Nuklearwaffen galten in der Vorstellung vom "begrenzten Krieg spezifisch westdeutscher Prägung" (428) als politische Waffen zur Kriegsverhinderung oder -beendigung.
Eine weitere Zäsur setzt der Autor mit dem Weißbuch 1979, das die Entwicklung im Bereich der Hochtechnologie (AirLand Battle, Follow-on Forces Attack/FOFA) reflektiert und eine Wiederbelebung operativen Denkens zur Führung von Landstreitkräften förderte. Die Sowjetunion konnte im zunehmend technologisch geprägten Rüstungswettlauf zwischen NATO und Warschauer Pakt nicht mehr mithalten, und mit dem Amtsantritt des neuen Generalsekretärs des Zentralkomitees der KPdSU, Michail Gorbatschow, im Frühjahr 1985 begann der Abbau der Feindbilder.
Bemerkenswert findet der Autor in seiner Zusammenfassung, "dass die westdeutsche Militärführung den Ideen und Planungen der NATO-Partner trotz aller Abhängigkeiten beharrlich alternative Leitbilder vom Kriege gegenüberstellte". Die "Vorstellung von einer grenznahen, wendig geführten Vorwärts- bzw. Vorneverteidigung" sei dabei "die beherrschende Kontinuitätslinie" gewesen. (431) Dazu muss jedoch angemerkt werden, dass sich dies wirklich erst in der Verteidigungsministerzeit Helmut Schmidts (1969-1972) durchsetzte: Schmidt erteilte der amerikanischen Absicht, nukleare Waffen als Mittel der Verteidigung auf deutschem Boden einzusetzen, eine Absage und leitete den Prozess der Umorientierung des Einsatzes auf die Wiederherstellung der Abschreckung ein. In der Zeit der Strategie einer "Massiven Vergeltung" hatte es wenig Raum für deutsche Überlegungen gegeben. Das änderte sich grundsätzlich mit dem Übergang zur Flexible Response (nach dem Verlust der absoluten nuklearen Überlegenheit der USA), durch die auch eine deutsche Mitsprache bei der Nuklearplanung verankert wurde. Sicher aber hat der Autor Recht hinsichtlich der Bedeutung, die er der Besetzung wichtiger NATO-Posten u.a. durch die Generale Speidel, Heusinger, Wolfgang Altenburg und von Hans-Henning von Sandrart zumisst.
Eine wichtige Erkenntnis des Buchs liegt darin, dass es in der Bundeswehrführung nie ein einheitliches Kriegsbild gab, sondern dass angesichts der "Orientierungsfunktion" von Kriegsbildern (52) starke Konkurrenz zwischen den Vorstellungen der Teilstreitkräfte Heer, Marine und Luftwaffe herrschte. Im Wettstreit um deren jeweils dominierende Rolle, bei der Führungskulturen eine Rolle spielten und es natürlich auch um Ressourcenzuweisung ging, seien Kriegsbilder "nicht nur Streitobjekte, sondern auch Streitmittel der Machtpolitik" gewesen. (425)
Zum Schluss zwei kritische Hinweise: Erstens, die weitgehende Beschränkung auf Gedanken der Militärelite, d.h. der Verzicht auf gründliche Berücksichtigung von Positionen der politischen Leitung und von Parlamentariern sowie der Zivilgesellschaft (z.B. der Friedensbewegung) war wohl unvermeidlich, bedeutet aber eine Einengung, welcher sich der Leser bewusst sein muss. Zweitens, zum Ausblick auf die "weitere Entwicklung bis in die Gegenwart" (432 ff.): Zutreffend ist die Beobachtung, dass in den 1990er Jahren der sicherheitspolitische Paradigmenwechsel eine neue Rolle von Streitkräften der NATO und nicht neue "Kriegsbilder" bewirkt habe; Auslandeinsätze, Krisenbewältigung und Stabilisierungsaufträge werden erwähnt. Zwar wird am NATO-Beitritt der mittelosteuropäischen Staaten eine Hinwendung zur "erweiterten Landesverteidigung im Rahmen der Bündnisverteidigung" festgemacht (439) und werden "hybride" sowie "Cyber"-Kriegsformen genannt, doch bleibt dies blass. Der Grund für einen erneuten Paradigmenwechsel, nämlich die aggressive Politik Russlands, wird nicht beim Namen genannt, hat aber seit 2014 eine erhebliche Umorientierung der NATO mit sich gebracht.
Diese kritischen Anmerkungen schmälern keineswegs die Leistung des Autors, ein äußerst komplexes, für das Verständnis von Sicherheitspolitik und Strategieentwicklung sehr relevantes Thema kenntnisreich, interdisziplinär und multidimensional durchdrungen, eine Vielzahl von Einflussfaktoren berücksichtigt, überzeugende Schlussfolgerungen gezogen und das Ergebnis seiner Analyse interessant und gut lesbar, auch mit sinnvollem Anschauungsmaterial, dargeboten zu haben.
Klaus Wittmann