Günter Müchler: Napoleon. Revolutionär auf dem Kaiserthron, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2019, 622 S., 32 s/w-Abb., 2 Kt., ISBN 978-3-8062-3917-1, EUR 24,00
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Günter Müchler, bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2011 Programmdirekter des Deutschlandfunks, legt seine vierte Publikation über Napoleon bzw. die Napoleoniden vor. [1] Der Band will auf knapp 600 Seiten "den Mann in die Zeit" stellen (11) und insbesondere fragen, "wo Napoleon Gestalter und wo er Getriebener war" (ebd.).
Der Autor gliedert seine Darstellung in sechs große Kapitel. Im ersten Teil, "Suche", spürt er der Herkunft und Jugend Napoleons nach und schildert die frühen Jahre beim Militär, in denen Napoleon bei der Befreiung des von Anhängern der Gegenrevolution besetzten Toulon im Jahr 1793 erstmals seine strategischen Fähigkeiten unter Beweis stellte. Nach der Ernennung zum Oberbefehlshaber der armée d'Italie im März 1796 traten bereits Eigenschaften zutage, die Napoleons spätere Erfolge begründeten, darunter die gezielte "politisch[e] PR" (116) durch eigens gegründete Armeezeitungen sowie die sorgfältige Pflege seiner "Wiedererkennbarkeit" (120) in Kleidung und Pose.
Der zweite Teil, "Gestaltung", beschreibt die Zeit von Napoleons Abreise aus Ägypten 1799 bis zur Kaiserkrönung im Jahr 1804. Diese Zeitspanne ist durchaus thesenhaft gewählt, weil Müchler die vielfach vertretene Auffassung einer Zäsur zwischen dem (tolerierbaren) Konsulat Napoleons und seinem (inakzeptablen) Kaisertum nicht teilt, sondern einen größeren Epochenzusammenhang sieht: Der Staatsstreich 1799 wurde, so Müchler, "nicht von Revisionisten ins Werk gesetzt, sondern vom Stammpersonal der Revolution, das mithilfe eines starken Mannes die Gegenrevolution verhindern will. Dieselben Kräfte und Motive treiben zur Kaiserkrönung von 1804" (13). Da sich Napoleons Kaisertum auf sein Charisma und die Volkssouveränität stützte, sei es vom Ancien Régime "weiter entfernt als von der Revolution" (ebd.).
Der dritte Teil, "Improvisationen", spannt den Bogen von der "Monarchisierung" (262) der Republik Italien 1805 über die militärisch-politischen Erfolge in Jena und Auerstedt, Friedland und Tilsit, die Errichtung des Königreichs Westphalen als napoleonischen Modellstaat, den Spanienfeldzug, in dem Napoleon - die Bedeutung der Religion und des noch aus dem Abwehrkampf gegen die Mauren herrührenden Widerstandsgeistes der Spanier unterschätzend - "leichtfertig die Büchse der Pandora geöffnet hat" (339), das "Menetekel" (361) bei Aspern und die "Energieleistung" (365) in Wagram bis zu der von der Bourbonenpartei als "Niederlage des Legitimismus" (382) verstandenen Heirat mit Marie Louise von Österreich und der Geburt ihres gemeinsamen Sohns 1811.
Teil IV, "Lähmung", beginnt mit den Folgen der Kontinentalsperre und dem Blick auf die deutschen Staaten und Russland, dessen Zar Alexander seit Anfang des Jahres 1811 aufgrund der Wirtschaftsblockade zum Bruch mit Napoleon entschlossen war. Das "Debakel der Großen Armee" (447) in Russland 1812, der Abfall und die Kriegserklärung Preußens sowie der Seitenwechsel Österreichs und schließlich die "krachende Niederlage" (472) in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 stehen im weiteren Fokus.
In Teil V zeichnet Müchler den "Absturz" Napoleons bis zur Schlacht bei Waterloo nach. Die bereits während des Wiener Kongresses von Metternich und Castlereagh befürchtete Flucht aus Elba, der "Adlerflug" (502) durch Frankreich werden ebenso beleuchtet wie Napoleons innenpolitische Reformen während der Hundert Tage. Am Ende des Feldzugs in Belgien standen Napoleons Niederlage in Waterloo und der Aufbruch ins Exil nach St. Helena.
Das letzte Kapitel ist dem "Nachhall" Napoleons gewidmet, der sich im Exil "ganz auf die Gestaltung seines Nachruhms" konzentrierte (561). Als Hauptgrund für den entstehenden "Mythos Napoleon" sieht Müchler "das tragische Scheitern und die Leiden der Verbannung" (570) seines Protagonisten. Die Bilanz der Ära Napoleon fällt, so der Autor, für Frankreich "uneindeutig" aus (577): Waren die außenpolitischen Eroberungen ohne Bestand, habe Napoleon sich durch seine Gesetzgebung als "herausragender Reformator", innenpolitischer "pacificateur" (ebd.) und Retter der Revolutionen erwiesen. "Deutsche Spuren" (575) Napoleons (auf italienische, spanische oder russische wird nicht eingegangen) sieht Müchler nicht nur in der "Flurbereinigung im Westen und Südwesten" (578), sondern auch in der nachhaltigen Prägung der vier rheinischen Departements, insbesondere durch den Code Napoléon. Napoleons Einfluss auf die Entstehung der "'Teutschheit' und des Franzosenhasses" (581) sowie den Charakter und die Folgen der Befreiungskriege thematisiert der Autor auf lediglich zwei Seiten sehr knapp, was sich auch in den zu diesem Aspekt nur sparsam vertretenen Titeln im Literaturverzeichnis niederschlägt. Angesichts von Napoleons in der Forschung intensiv diskutierter Bedeutung für diesen Themenkomplex und des Anspruchs des Bandes, ein "Epochenpanorama" (Klappentext) zu zeichnen, mag dies nicht ganz zufriedenstellen, ist aber mit Blick auf die Gattung Biographie eine lässliche Sünde.
Müchler ist eine in ihrer Materialfülle und Detailtreue beeindruckende Studie gelungen, gut ausgestattet und ansprechend geschrieben, wobei der essayistisch-journalistische Stil die Profession des Autors erkennen lässt, der - durchgehend im historischen Präsens und teils nonchalant-saloppen Duktus - etwa davon spricht, dass aus Napoleons unehelichem Sohn Léon "übrigens ein Taugenichts" werde (305), Marschall Ney "angefressen" sei (515) oder Napoleon "das Comeback [...] geschafft" habe (529). Anschaulichkeit gewinnt die Darstellung durch viele Zitate aus gedruckten Quellen; Müchler zieht nicht nur die Correspondance générale Napoléon Bonaparte heran, sondern auch die Erinnerungen von Kritikern und Bewunderern, darunter Madame de Staël, François de Chateaubriand, Armand de Caulaincourt oder Clemens Fürst von Metternich, gar nicht bzw. kaum hingegen archivalische, diplomatische und militärische Quellen oder die zahlreichen Napoleon-Karikaturen. Das Literaturverzeichnis führt kanonische ältere wie aktuelle Titel auf, wäre aber durchaus um neuere, teils kulturhistorisch, teils politik- und militärgeschichtlich ausgerichtete Arbeiten, etwa von Barbara Beßlich, Timothy Blanning, Étienne François, Karen Hagemann, Ute Planert oder Munro Price, zu ergänzen. Einige kleinere Flüchtigkeiten seien angemerkt, darunter die fälschliche Bezeichnung von General Jean Andoche Junot als "Marschall" (416), zu dem Napoleon ihn dezidiert nicht ernannte, oder die nicht korrekte Wiedergabe des legendären Flaggensignals von Admiral Nelson in der Schlacht von Trafalgar ("England expects, every man will do his duty" (273) statt richtig "England expects that every man will do his duty"). Müchler ist seinem Protagonisten sehr gewogen, was sich unter anderem an Charakterisierungen wie "Schöpfer mit Leib und Seele" (207) oder "Im Grunde hat Napoleon ein weiches Herz" (298) zeigt. Diese Details schmälern Müchlers Leistung aber keineswegs. Am Ende vereint seine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nahezu idealtypisch die historischen Kategorien Struktur und Persönlichkeit: Napoleon "nimmt sich alle Freiheiten und kommt doch nie los von den Bedingungen, die seinen Aufstieg begründet haben" (585).
Anmerkung:
[1] 1813. Napoleon, Metternich und das weltgeschichtliche Duell von Dresden, Stuttgart 2012. - Napoleons hundert Tage. Eine Geschichte von Versuchung und Verrat, Darmstadt 2014. - Napoleons Sohn. Biographie eines ungelebten Lebens, Darmstadt 2017.
Verena von Wiczlinski