Thomas Sandkühler / Charlotte Bühl-Gramer / Anke John u.a. (Hgg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 17), Göttingen: V&R unipress 2018, 491 S., 45 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-0891-7, EUR 65,00
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Charlotte Bühl-Gramer: Nürnberg 1850 bis 1892. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und Stadtverwaltung im Zeichen von Industrialisierung und Urbanisierung, Nürnberg: Stadtarchiv Nürnberg 2003
In ihrer 22. Zweijahrestagung (Berlin, 28.-30.09.2017) nahm sich die Konferenz für Geschichtsdidaktik mit dem Ziel einer Standortbestimmung des Geschichtsunterrichts im 21. Jahrhundert ein großes Thema vor. Und in der Tat ist nicht nur die finale Publikation zusätzlich zu jener im üblichen Fachverlag inzwischen auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen; auch meldeten sich etliche bekannte Stimmen der Zunft im Laufe der drei Tage programmatisch zu Wort. Schade jedoch, dass es im Rahmen einer Sektion (2) zu Misstönen kam, die gar deren Abbruch erzwangen und somit zeigten, dass bestimmte Themen und Perspektiven durchaus stark aufgeladen zu sein scheinen. Jenseits dessen herrschte indes fast Einmütigkeit darüber, welche Diskurse man künftig verstärkt bedienen möchte.
Neben den üblichen Bausteinen (Grußworte, Impulsvortrag zum Stand von Disziplin und Verband, zwei Podiumsdiskussionen, Präsentation und Prämierung von Nachwuchspostern) und einem sogenannten "Markt der Möglichkeiten" (unter der Ägide der Körber-Stiftung) bot die Tagung insgesamt fünf Sektionen, die jeweils sprechende Titel mit prägnant vorangestellten Fragepronomina trugen: (1) "Was? Historisches Lernen in der Schule - Theorien und Themen" (65-174), (2) "Für Wen? Verschiedenheit, Inklusion und Exklusion" (175-262), (3) "Wie? Der Blick auf die Unterrichtsgestaltung" (263-352), (4) "Wer? Die Akteure" (353-410), (5) "Womit? (Digitale) Medien des historischen Lernens" (411-491). Eine solche Zusammenschau entwickelte sich sichtlich von außen nach innen und bemühte sich möglichst viele Bedingungsfaktoren des komplexen Wirkungsgeflechts Geschichtsunterricht im Blick zu haben. Will man all dies maximal abstrahieren, fiele wohl am ehesten auf, dass inzwischen fast traditionelles geschichtsdidaktisches Vokabular beziehungsweise Inventar vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Veränderung zwangsläufig auf den Prüfstand gestellt wurde und sich daraus durchaus das eine oder andere herausfordernde Spannungsfeld ergab: so etwa zwischen Inhalts- beziehungsweise Themenbezug und gesellschaftlichem Lerneffekt (Johannes Meyer-Hamme; Ulrich Baumgärtner oder Markus Bernhardt), zwischen Subjektorientierung und Standardisierung (Sebastian Barsch und Bettina Alavi) oder zwischen Multiperspektivität und Interkulturalität (Stefan Benz). Nachgerade sprechend hier allemal die von Markus Bernhardt formulierte Erkenntnis, dass es angesichts wachsender Betonung von Diversität respektive Heterogenität künftig weniger denn je einförmiges, simples Lernen aus der Geschichte geben könne; dementsprechend müsse man, empirische Möglichkeiten dabei bedacht nutzend, in der bewussten Konstruktion von Geschichtsunterricht zweifelsohne noch deutlich stärker als bislang nach exemplarischer Individualisierung denn nach kanonischer Vereinheitlichung streben.
Was bereits Charlotte Bühl-Gramer im Eröffnungsvortrag (31-40) thesenhaft deutlich machte, zog sich mithin als roter Faden durch die gesamte Tagung: vor allem die hohen Erwartungshaltungen der Öffentlichkeit an möglichst umfassende Wirkfähigkeit des Faches Geschichte, das als Allzweckwaffe politischer Bildung in Zeiten faktischer Verschiebung von Diskursen nach rechts eigentlich aber überfordert sei; angesichts dessen müsse sich dieses umso mehr neuen Anforderungen (insbesondere Geschichtskultur sowie Digitalisierung und traditionelles Medienverständnis) dynamisch stellen und diese, mit bedachtem Blick auf einschlägige wissenschaftliche Standards, mit genuinen Aufgabenfeldern wie etwa der Rolle des historischen Wissens im Zeitalter nahezu messianischer Kompetenzfixierung zu harmonisieren versuchen. Ganz in diesem Sinne sahen zwei internationale "Keynotes" (Klas-Göran Karlsson, 43-49; T. Mills Kelly, 59-63) die hohe aktuelle Wertschätzung für Geschichte in ihren Wirkräumen als große Chance, geläufige Tendenzen der Gegenwart (etwa Digitalisierung) mit Bewährtem (historische Reflexion) klug in Einklang zu bringen. Ähnlich auch die fünf großen Sektionen: Die Sektionen eins bis drei ("Was?", "Für Wen?", "Wie?"; 65-352) betonten die Relevanz historischer Themen und die damit verbundene Problematik 'richtiger' Auswahl, die Rolle von Diversität und Heterogenität in einer zunehmend realen Migrationsgesellschaft, der zuliebe gerade der medialen Perpetuierung exkludierender Stereotypen Einhalt zu gebieten sei, sowie die dringliche Notwendigkeit sprachsensible(re)n Fachunterrichts im Zeichen narrativer Kompetenz. Damit war letztlich auch ein ernstes Plädoyer für mehr situativ bedingte, praktisch profilierte und vielfach perspektivierte Strategien in einem bunter werdenden Geschichtsunterricht formuliert. Dies bildete auch den Nährboden für die Sektionen vier und fünf ("Wer?", "Womit?"; 353-491), die in ihrer Programmatik jeweils spezifische Mechanismen der Planung und Umsetzung von Geschichtsunterricht fokussierten und dabei insbesondere neue Impulse für die Entwicklung von Gütekriterien und Aufgabenformaten lieferten. Mehrere empirisch ausgerichtete Beiträge zeigten allerdings auch, dass die generell anzustrebende 'digital literacy' bei Unterrichtenden wie in Schulbüchern zumindest im deutschsprachigen Raum aktuell noch in den Kinderschuhen stecke. Dass der weitere Weg zu einer "digitalen Revolution" (Christoph Kühberger) mutmaßlich steinig werden könnte, ließen erste interessante Projektskizzen zu digitalen Geschichtsbüchern (Waltraud Schreiber und Christiane Bertram) ebenso vermuten wie konkrete Erfahrungen aus der Entwicklung einer speziellen Lern-App für Tablets (Martin Lücke), die nicht bei allen Nutzerinnen und Nutzern den erhofften Erkenntnisfortschritt mit sich brachte.
In der Summe offenbart das Tableau der aufgeworfenen Themen eindrücklich, dass sich die Konferenz in den Anfängen des 21. Jahrhunderts der Notwendigkeit eines breiten, grundsätzlichen und auch symbolträchtigen Diskurses bewusst ist. Dies umso mehr, als aktuelle bildungspolitische Entwicklungen (Stichworte: Praxistauglichkeit kompetenzorientierter Lehrpläne, neue Tendenzen zu integrativen Fächerverbünden, elementare Debatten über Heterogenität und Diversität sowie zur Digitalisierung) einmal mehr Rahmen und Tempo der jeweiligen Entwicklung vorzugeben scheinen. Das Fach sucht dem in der Tat inzwischen guten Willens nachzukommen. Auffällig ist dabei das insgesamt selbstbewusste, mitunter fast harmonische Auftreten der Zunft, das in der Vergangenheit nicht immer selbstverständlich war. Fast erahnt man, trotz aller Diskussionen im Einzelnen, eine gewisse allseitige Demut vor jenen großen Aufgaben, die bereits in den Titeln der beiden großen Podiumsdiskussionen ("Wozu [noch] Geschichtsunterricht?", "Quo vadis, Geschichtsunterricht?") spürbar wurde.
Angesichts dessen erinnert der Rezensent an jene optimistische Zukunftsperspektive, die dieser bei seiner vormaligen Besprechung der Tagung des Jahres 2013 bereits zu erkennen meinte. [1] Mit Bezug auf Michael Sauers und Alfons Kenkmanns damalige Äußerungen, denen zufolge sich die Geschichtsdidaktik als "Problemfeld mit erheblichem Forschungs-, Diskussions- und Handlungsbedarf" charakterisiere und als deren künftige Hauptaufgabe formuliert war, "problembewusst und reflektiert auf die Kompetenzvorgaben zu reagieren", beurteilte der Rezensent das damals Debattierte auch als "Plädoyer für selbstbewussteres Auftreten der Zunft im bekannten Spannungsfeld der Wissenschaften". [2] Nicht zuletzt durch ihren bedachten Verzicht auf kompetenzorientierte Engführung konnte die Konferenz für Geschichtsdidaktik dem in der Tat nun einen guten Schritt näherkommen. Allemal ist damit nachvollziehbar(er) geworden, welche Perspektiven künftige Diskurse vornehmlich bestimmen werden. Richtig ist aber auch, dass der eine oder andere Fokus auf gesellschaftlich wie bildungswissenschaftlich Angesagtes seine Praxistauglichkeit im Geschichtsunterricht erst noch wird beweisen müssen.
Anmerkungen:
[1] Bert Freyberger: Rezension von: Susanne Popp / Michael Sauer / Bettina Alavi [u.a.] (Hgg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Nationale und internationale Perspektiven, Göttingen 2013, in: sehepunkte 14 (2014), URL: http://www.sehepunkte.de/2014/04/24633.html (zuletzt aufgerufen am 01.03.2020).
[2] Ebenda.
Bert Freyberger