Beate Fieseler / Roger Markwick (ed.): Sovetskij tyl 1941-1945: povsednevnaja zizn' v gody vojny, Moskva: ROSSPEN 2019, 383 S., ISBN 978-5-8243-2307-8
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Der Zweite Weltkrieg bleibt auch 80 Jahre nach seinem Beginn Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen und Publikationen. Der Fokus der Forschung verschiebt sich jedoch immer mehr von den Schlachtfeldern auf das Hinterland. Damit gerät auch das tägliche Leben der Zivilbevölkerung stärker in den Blick, das in der sowjetischen Forschung mit dem dominanten Narrativ vom siegreichen Volk (das bis heute nachwirkt) keinen Platz hatte.
Vor diesem Hintergrund ist der von Beate Fieseler und Roger Markwick herausgegebene Sammelband ein wichtiger Schritt, thematisiert er doch den Beitrag der Menschen hinter den sowjetischen Frontlinien zum Sieg über das nationalsozialistische Deutschland. Der Band ist das Ergebnis des Internationalen Workshops "Everyday War: Exploring the Soviet Home Front 1941-1945," der 2014 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf stattgefunden hat [1]. Von den vierzehn Vorträgen, die Historikerinnen und Historiker aus Russland, Deutschland, Großbritannien, den USA und Australien dort präsentiert haben, finden sich acht in der hier besprochenen Veröffentlichung wieder. Weitere acht Forscherinnen und Forscher (unter anderem aus Schweden, den Niederlanden und Kanada) wurden von Beate Fieseler und Roger Markwick eingeladen, sich zu beteiligen. Fünf Jahre nach dem Workshop liegt als Ergebnis dieser Bemühungen ein Sammelband in russischer Sprache vor.
Der zentrale Akteur des Sammelbandes ist laut Einleitung "der sowjetische Staat", der "die Menschen zur Verteidigung ihrer Heimat mobilisierte", wobei sowohl formelle als auch informelle Zwangs- und Überzeugungsmechanismen zum Einsatz kamen (24). Praktisch jeder Beitrag handelt vom Staatsapparat, der die Arbeiterinnen und Arbeiter der Heimatfront verpflichtete, die Front mit Kriegsmaterial und Lebensmitteln zu versorgen und den Soldaten darüber hinaus mit Briefen und Plakatpropaganda zur Seite zu stehen. Am Beispiel einzelner Betriebe betonen die Autorinnen und Autoren, welche Bedeutung dem sozialistischen Wettbewerb - der "Stachanow-Bewegung" - unter Kriegsbedingungen zukam. Roger Markwick und Beate Fieseler beschreiben die Erhöhung der Arbeitsproduktivität in der Holzindustrie mit der "Djukow-Methode", benannt so nach der 22-jährigen Holzfällerin Efrosinja Djukowa, die ihre Brigade besonders effizient zu organisieren verstand. Ein ähnliches Thema behandelt Michail Muhin am Beispiel der Luftfahrtindustrie; er beschäftigt sich mit als Rekordbrechern gefeierten Arbeitern, die 200 bis 250 Prozent der Norm pro Schicht erfüllten. Einen Wettbewerb gab es auch um die mehr oder weniger freiwilligen Spenden zur Produktion von Rüstungsgütern. Kristy Ironside schildert die Geschichte des Imkers Ferapont Golowatow aus der Kolchose "Stakhanovets" im Gebiet Saratow, der 100.000 Rubel für die Produktion von Flugzeugen spendete. Der sozialistische Wettbewerb war somit gleichermaßen Instrument staatlichen Zwangs wie Instrument der allgemeinen Mobilisierung der sowjetischen Bevölkerung. Nach Meinung einiger Autorinnen und Autoren gab es jenseits der sich immer weiter verschärfenden Arbeitsbedingungen in der "Stachanow-Bewegung" eine Form der Arbeitsbegeisterung, die zum Sieg gegen NS-Deutschland beitrug.
Zahlen sind ein wichtiger Indikator für die Wirtschaft; sie ermöglichen es, ein bestimmtes Phänomen quantitativ zu erfassen. Alle Autorinnen und Autoren des Sammelbandes berufen sich auf statistische Daten. Steven Barnes dokumentiert die Anzahl der offenen Lager im Gulag-System, das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Arbeitskräften sowie Produktivitätsindikatoren am Beispiel des Arbeitslagers Karaganda und somit Zwangsarbeit unter Kriegsbedingungen. Karel Berkhoff stellt die Frage nach der Wirksamkeit der allgemeinen Mobilisierung in der Sowjetunion und nimmt dazu die Zahl der zentralen und regionalen Zeitungen, der Rundfunkempfänger sowie die obligatorische Zensur in den Blick. Donald Filtzer hingegen beschäftigt sich mit der Ernährungssituation von Kindern und arbeitet die Diskrepanz zwischen geltenden Normen und der Situation in den Milchküchen heraus. Dabei werden die Ursachen für Kinderkrankheiten und für die hohe Säuglingssterblichkeit deutlich.
Anhand der statistischen Daten lässt sich zweierlei zeigen: der Beitrag der Zivilbevölkerung zum Sieg und staatliche Fehlschläge, die nicht selten mit Zwang, irrationalem Einsatz von Frauen- und Kinderarbeit, erhöhter Sterblichkeit und Hunger einhergingen. Nach der Lektüre der einzelnen Beiträge drängt sich die Frage auf, wer die eigentlichen Gewinner waren - die bewaffneten Soldaten an der Front oder die schweigende Masse von Frauen, alten Menschen und Kindern, die jede Minute nicht nur um ihr eigenes Überleben, sondern auch um die Erfüllung der Arbeitsnormen kämpften.
Der Untertitel des Sammelbandes lautet: "Alltag im Krieg". Den Aufsätzen fehlt jedoch - von einzelnen Beispielen abgesehen - genau dieser Alltag, ein Blick von unten auf die Probleme der Heimatfront. Wer waren die Menschen hinter den Zahlen, welche konkreten Auswirkungen hatten Neuerungen im Arbeitsrecht, wer las Zeitungen, wie wirkten sich "freiwillige" Spenden auf das Familienbudget aus, was aßen die Gulag-Häftlinge und was trugen sie, als sie in der Holzindustrie arbeiteten, wie bewältigten Menschen ihre Arbeit in den Betrieben und im eigenen Garten, wo sie Lebensmittel anbauten? Hinter einer Fülle von Zahlen ist der wichtigste Faktor des Sieges hinter der Front, der Mensch, verloren gegangen. Die Hauptquellen für die meisten Autorinnen und Autoren (mit Ausnahme von Irina Tažidinova und teilweise Evgenij Krinko) sind offizielle Akten, Gesetze aus den Kriegsjahren, statistische Berichte sowie Produktionsvorgaben. Diese Art der Quellen ist unverzichtbar. Man darf jedoch nicht vergessen, wie sowjetische Funktionäre Berichte verfassten, in denen sie ihre Zahlen - je nach Zielsetzung - oft über- oder unterbewerteten. Daher sollten quantitative Indikatoren der Stalin-Zeit kritisch wahrgenommen und durch andere Dokumente wie Briefe, Tagebücher, Memoiren oder Zeitzeugeninterviews ergänzt werden. Zuweilen sind es gerade Ego-Dokumente, die uns ein realistischeres Bild vom Alltag an der sowjetischen Heimatfront vermitteln.
Anmerkung:
[1] International Workshop: Everyday War: Exploring the Soviet Home Front 1941-1945; http://www.geschichte.hhu.de/fileadmin/redaktion/Fakultaeten/Philosophische_Fakultaet/Geschichtswissenschaften/Geschichte_und_Kulturen_Osteuropas/Bilder/Flyer_Tagung_Exploring_the_Soviet_Home_Front.pdf (25.04.2020).
Irina Rebrova