Lars Hübner: Homer im kulturellen Gedächtnis. Eine intentionale Geschichte archaischr Homerrezeption bis zur Perserkriegszeit (= Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne; Bd. 5), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2019, 247 S., ISBN 978-3-515-12349-5, EUR 48,00
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Der Titel des rezensierten Buches ist in zweifacher Hinsicht unscharf: Zum einen geht es Hübner weniger um "Homer" als Person - die antiken Homerbiographien werden nicht behandelt - sondern die homerischen Epen als Texte sowie den in ihnen behandelten Stoff (Hübner selbst spricht in diesem Zusammenhang von "Homerischem"). Zum anderen will Hübner sein Buch trotz des Untertitels nicht als eine "intentionale Geschichte" deklarieren, sondern untersuchen, wie die homerischen Epen in der archaischen Zeit zentrales Element der intentionalen Geschichte des antiken Griechenland wurden. Glücklicher wäre es daher gewesen, von "Homerrezeption und intentionaler Geschichte bis zur Perserkriegszeit" zu sprechen.
Diese Fragestellung versteht sich als eine kritische Auseinandersetzung mit Gregory Nagys "Homer the Preclassic". [1] Hübner bemängelt an diesem Werk vor allem die fehlende Berücksichtigung der archaischen Lyrik als Korrektiv zur sonstigen späten Überlieferung zur frühen Homerrezeption (18-20). Dabei ist sich Hübner der Probleme, die durch Überlieferungslücken, fragmentarische Überlieferung und Unsicherheiten der Datierung entstehen, durchaus bewusst (24-25), womit die Probleme selbst freilich noch nicht gelöst sind.
Die Demodokos-Episode der Odyssee wertet Hübner als Zeugnis für eine proto-aristokratische Homerrezeption im 8. Jahrhundert v. Chr. (31-57). Zu dieser zeitlichen Einordnung kommt er, indem er von einer angenommenen schriftlichen Fixierung der Epen am Beginn des 7. Jahrhunderts v. Chr. über eine angenommene Phase mündlicher Überlieferung zurückrechnet. Dieses Modell ist für die historische Verortung der homerischen Welt generell völlig plausibel, allerdings datieren die von Hübner konkret angeführten außer-epischen Parallelen in das 7. Jahrhundert v. Chr., ebenso wie die als Deutungsrahmen herangezogene lydische Expansion (52-55). Die Rückprojektion auf das vorhergehende Jahrhundert basiert daher im Wesentlichen auf einem Analogieschluss (56-57).
Für das 7. Jahrhundert v. Chr. stellt Hübner die relativ späten Traditionen über die Homeriden gegen die Homerrezeption der archaischen Lyriker (58-91). Er verortet die Lyrikertexte im Kontext des aristokratischen Symposions (trotz der 68-69 und 84-85 vorgetragenen Unsicherheiten) und lehnt die späten Nachrichten über öffentliche Homerrezitationen ab, obwohl er die bürgerschaftsorientierte Verargumentierung von Homerischem bei Kallinos und Tyrtaios herausarbeitet. Das Homerische wird hier zum Köder, um die Aristokratie in die entstehende Polis und ihr Wertesystem einzubinden. Ferner verknüpfen die Lyriker die Gegenwart direkt der homerischen Vergangenheit (Mimnermos) bzw. konstruieren eine grundsätzliche Kommensurabilität (Kallinos und Tyrtaios).
Ganz unproblematisch ist diese starre Dichotomie von Aristokraten und Polisgemeinschaft nicht: Was unterscheidet ein "aristokratisches" Symposion von einer "nicht-aristokratischen" Feier? Oder soll man annehmen, dass "Nicht-Aristokraten" überhaupt kein Sozialleben in Form von Zusammenkünften entfalteten, wie bescheiden diese auch gewesen sein mögen? Warum sollte man in einem solchen Milieu keine Rekurse auf Homerisches schätzen, und sei es, um sich den sozial Überlegenen anzugleichen, zumal solche Bezüge einfacher zu haben waren als kostbare Luxusgüter aus dem Orient? Eine solche soziale Funktion von Homerrezeption zeigt im satirischen Zerrspiegel später noch Petron mit seiner Darstellung der Homerrezeption Trimalchios.
Unter Verweis auf chronologische und inhaltliche Unstimmigkeiten greift Hübner im nächsten Schritt die Glaubwürdigkeit der späten Überlieferungen zur Homerrezeption des 6. Jahrhundert v. Chr. an (92-125). Die zur Kontrolle herangezogenen Lyrikerfragmente, die Polykrates-Ode des Ibykos, die homerischen Narrative bei Stesichoros sowie der homerische Apollon-Hymnos (124-150), liefern jedoch selbst nur wenige Gewissheiten (Hübner selbst spricht 154 von "teils wagemutigen Rekonstruktionen"). Das beginnt schon mit Autorenzuweisung und Datierung. Für eine rezeptionsgeschichtliche Einordnung wäre es zudem grundlegend, die jeweiligen Entstehungs- und Aufführungskontexte zu kennen. Gerade diese lassen sich aber nur vermuten bzw. aus den eigentlich verpönten späten biographischen Traditionen erschließen. [2] Man könnte nun hoffen, dass sich beide Quellenstränge gegenseitig zu stützen vermögen. Da aber die antiken Dichterbiographien wesentlich aus Angaben in den Werken selbst herausgesponnen wurden, ist dies nicht der Fall und es drohen Zirkelschlüsse: Der wegen seiner Schönheit gerühmte Polykrates der Ode des Ibykos wird etwa vornehmlich deshalb mit dem Tyrannen von Samos identifiziert, weil eine korrupte und schwer zu deutende Stelle der Suda dem Dichter einen Aufenthalt auf Samos zuschreibt. Was aber, wenn diese biographische Notiz allein eine auf der Ode basierende Spekulation ist? [3] Man wird Hübner daher ohne weiteres zustimmen, dass die Polykrates-Ode eine exklusivistische Spielart von Homerrezeption darstellt, wohingegen bei Stesichoros erstmals der gesamte Demos zum Bezugspunkt wird. Ob aber die Tyrannen "der maßgebliche soziale Träger des Homerischen" (149) gewesen sind, ist schon weniger sicher, zumal die Frage nach der Repräsentativität der untersuchten drei Fallbeispiele noch zu begründen wäre. Dessen ungeachtet hat die Vermutung, dass die Rolle des Demos in den späten Überlieferungen im Sinne einer Rückprojektion zeitgenössischer Verhältnisse aufgewertet wurde (149), große Wahrscheinlichkeit für sich.
Für das 5. Jahrhundert v. Chr. behandelt Hübner die Plataiai-Elegie des Simonides und Pindars achte Isthmie (175-197). Während in der Plataiai-Elegie mittels der homerischen Folie das agonale aristokratische Ethos auf alle Kämpfer übertragen und dadurch demokratisiert wird, wirkt bei Pindar die ältere Tradition nach, die Homerisches zur Herausstellung aristokratischer Einzelner nutzt. Im Großen und Ganzen diagnostiziert Hübner jedoch einen Trend, der Homerisches abseits "aristokratische[r] Nischen" zu einem "bürgerschaftlichen Gemeingut" machte (198).
Die Arbeit Hübners behandelt ausschließlich literarische Quellen. Die Aussagekraft archäologischer Quellen wird etwa für das Athen des 6. Jahrhundert v. Chr. mit dem Hinweis bestritten, an ihnen ließen sich nur Korrelationen, aber keine kausalen Verhältnisse ablesen (117). [4] Dieses Argument benennt aber nur ein methodisches Grundproblem der Geschichtswissenschaft allgemein: Tatsächlich basieren historiographische Kausalitätsvermutungen in aller Regel auf der Beobachtung von Korrelationen. Motivangaben und Kausalitätsbehauptungen in den literarischen Quellen sind nicht mit Tatsachen gleichzusetzen, weil sie zunächst als (Selbst-)Zuschreibungen zu sehen sind. Innere Motivationen, äußere Begründungen und tatsächliche kausale Folgen einer Handlung sind zudem drei sehr verschiedene Dinge, die weit auseinanderklaffen können.
Dass die Homerrezeption der archaischen Zeit ein Spiegelbild der gleichzeitigen soziopolitischen Entwicklungen darstellt, ist eine plausible, vielleicht naheliegende Hypothese. Angesichts der Unsicherheiten der Quellengrundlage muss Hübner jedoch seine Quellen vielfach unter Voraussetzung einer bestimmten Rekonstruktion dieser Entwicklungen deuten. Eine unabhängige Bestätigung dieses Rahmennarrativs darf man daher nicht erwarten. Wohl aber hat Hübner das Problem der frühen Homerrezeption basierend auf dem aktuellen Stand der aktuellen althistorischen Forschung zur Archaik plausibel eingeordnet.
Anmerkungen:
[1] Gregory Nagy: Homer the Preclassic, Berkeley [u.a.] 2010 (Sather Classical Lectures 67).
[2] Hübner ist sich dieses Problems bewusst, zieht daraus aber keine Konsequenzen. Verwiesen sei hier nur auf ein Beispiel: Der Feststellung, dass man zum Aufführungskontext der Polykrates-Ode nur Vermutungen anstellen könne, folgt schon im folgenden Absatz das affirmative Fazit, dass diese "in der sozialen Abgeschiedenheit des tyrannischen Hofes" zu verorten sei (123).
[3] Dies befürchtete schon Paul Maas: Rez. The Oxyrhynchus Papyri. Part XV, London 1922, in: Philologische Wochenschrift 42 (1922), 577-579. Die Bedenken werden von Andreas Bagordo im Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Band 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, München 2011, 197 zwar nicht direkt aufgenommen, aber doch immerhin als bedenkenswert referiert.
[4] Warum Hübner gleichzeitig in der korinthischen Vasenmalerei des 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. ein wichtiges Korrektiv zur literarischen Überlieferung vermutet und eine Forschungslücke konstatiert (117 Anm. 105), führt er nicht aus.
Andreas Hartmann