Rezension über:

Jonas Hagedorn: Oswald von Nell-Breuning SJ. Aufbrüche der katholischen Soziallehre in der Weimarer Republik, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 532 S., ISBN 978-3-506-78795-8, EUR 69,00
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Rezension von:
Hans Günter Hockerts
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Süß
Empfohlene Zitierweise:
Hans Günter Hockerts: Rezension von: Jonas Hagedorn: Oswald von Nell-Breuning SJ. Aufbrüche der katholischen Soziallehre in der Weimarer Republik, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 9 [15.09.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/09/32242.html


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Jonas Hagedorn: Oswald von Nell-Breuning SJ

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Es gab drei epochale Antworten auf den Ersten Weltkrieg: "Marxismus-Kommunismus, liberale Demokratie, Faschismus-Nationalsozialismus". So sah es Karl-Dietrich Bracher in einer grundlegenden Studie,[1] und nicht wenige Werke, die das "kurze 20. Jahrhundert" übergreifend betrachten, beziehen ihre Dramaturgie aus dem Spannungsverhältnis dieser antagonistischen Trias. Zweifellos hat man damit ein aufschlussreiches Grundmuster vor Augen, das im Blick auf die deutsche Geschichte eine besondere Pointe bereithält: Während die liberale Demokratie und ihre beiden stärksten Gegenbewegungen in der "formlosen Gärung" (Richard Löwenthal) der Weimarer Republik unmittelbar aufeinandertrafen, ist in den drei folgenden politischen Systemen - NS-Regime, Bundesrepublik, DDR - jeweils einer dieser Ordnungsentwürfe zur Dominanz gelangt.

Der Blick auf das trilaterale Deutungsmuster erfasst jedoch eine ganze Reihe von Ordnungskonzepten nicht oder nicht hinreichend, die in der politischen Ideengeschichte wirkungsmächtig wurden. Dazu zählen jene Denkströmungen, die sich unter dem Begriff des Korporatismus zusammenfassen lassen. Sie erlebten in der Weimarer Zeit eine Hochkonjunktur, galten jedoch nach 1945 als diskreditiert, weil sie zumeist kurzerhand dem Vor- und Umfeld des Faschismus zugerechnet wurden. Wie Andrea Rehling hingegen herausgearbeitet hat, lassen sich korporatistische Ideen - im Sinne einer institutionellen Einbindung gesellschaftlicher Gruppen in politische Entscheidungsprozesse und in die Organisation öffentlicher Aufgaben - im gesamten politischen Spektrum der Weimarer Republik finden, einschließlich einer dezidiert liberalen Richtung.[2]

Hagedorns Grundthese lautet: Eine Gruppe katholischer Sozialphilosophen und Nationalökonomen hat in der Weimarer Republik die traditionelle Vorliebe des Katholizismus für korporatistische Lenkungsansätze in einer demokratietauglichen und gewerkschaftsfreundlichen Weise fortentwickelt. Die Rede ist von der "zweiten Generation des christlichen Solidarismus" in der Nachfolge des Begründers dieser Denkrichtung, Heinrich Pesch. Deren interessanteste Köpfe, die Jesuitenpatres Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning, entfalteten eine lebhafte publizistische Tätigkeit, nutzten kollegiale Foren (insbesondere den "Königswinterer Kreis") und gewannen Einfluss auf den Text der Sozialenzyklika "Quadragesimo anno" (1931). Zugespitzt, aber nicht unzutreffend, bezeichnet Hagedorn Nell-Breuning sogar als "ghost writer" des Papstes Pius XI.

Der Name ihres Ordnungsentwurfs hat in der Geschichtswissenschaft keinen guten Klang: "berufsständische Ordnung". Diese Selbstbezeichnung war ein fataler Missgriff, denn sie hört sich wie ein Inbegriff des Reaktionären an. Tatsächlich ging es den Solidaristen jedoch, das weist Hagedorn überzeugend nach, um einen freiheitlich konzipierten Entwurf, der den Komplexitätsanforderungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung tragen sollte. Die Grundidee lag darin, dass die einzelnen Funktionsbereiche der Gesellschaft (definiert über berufliche Felder) zu öffentlich-rechtlich organisierten Korporationen zusammengeschlossen werden, die ihre Angelegenheiten großenteils in Selbstverwaltung regeln - aus eigenem Recht, nicht als verlängerter Arm des Staates. Im Falle der Divergenz von Kapital und Arbeit sollten paritätisch besetzte Beschlussgremien einen Ausgleich finden. Heute würde man das überbetriebliche Mitbestimmung nennen.

Wohlgemerkt: Dieses Konzept zielte gerade nicht auf die grundsätzliche Entmachtung des Parlamentarismus und der Gewerkschaften. Die korporativen Gremien sollten vielmehr in übergreifenden Fragen der politischen Instanz des Parlaments untergeordnet bleiben. Und die Gewerkschaften sollten keineswegs als "Baustücke oder Teilkörper" in die öffentlich-rechtlichen Institutionen eingefügt werden, sondern "ihr freies Eigenleben und ihre freie Eigenständigkeit" behalten. Nell-Breuning wurde nicht müde, vor dem Missbrauch korporativen Denkens "im Dienste der sozialen Reaktion" zu warnen.[3] Umso mehr betonte er den prinzipiellen Unterschied zwischen der solidaristischen Ordnungsvorstellung und den autoritären Varianten des Korporatismus-Konzepts, die damals (auch innerhalb des Katholizismus) im Schwange waren. Erst recht grenzte er sie vom Typ des faschistischen Korporativstaats ab. Allerdings trat der freiheitliche Akzent im Text der Enzyklika durchaus nicht so eindeutig hervor wie in den Schriften Nell-Breunings und einiger Mitstreiter. Außerdem ließ Pius XI. es sich nicht nehmen, den autoritären "Ständestaat" Österreichs öffentlich zu belobigen, womit der Pontifex selbst zur Grenzverwischung kräftig beitrug.

Die solidaristische Ordnungsvorstellung lässt sich gewiss kritisch betrachten. Zum einen sind die demokratie- und steuerungstheoretischen Einwände zu bedenken, die sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung über Mischformen von territorial-parlamentarischen und funktional-korporatistischen Repräsentationsweisen etabliert haben. Zum anderen standen die Solidaristen im Bann einer neuscholastischen Naturrechtsethik, die eine Art prästabilierte Harmonie in die Gesellschaft hineinprojizierte und zur Unterbewertung von Konflikten führte. Auch in der strikt nationalstaatlichen Rahmung macht sich eine Blickverengung bemerkbar. Dennoch: Es handelt sich um einen Modernisierungsschub in der Topographie des Katholizismus, der für die Beziehungsgeschichte zwischen Demokratie und Korporatismus bedeutsam ist. Somit fällt zugleich Licht auf das von "Normalität und Fragilität" durchzogene Experimentierfeld in der konstitutiven Phase der modernen Demokratie nach 1918.[4]

Jonas Hagedorn hat solche Zusammenhänge verdienstvoll herausgearbeitet. Im Grunde hat er jedoch zwei Bücher in einem geschrieben. Das eine befasst sich generell mit der Geschichte und dem Profil des Solidarismus, mit konkurrierenden Richtungen des korporativen Denkens inner- und außerhalb des Katholizismus sowie mit Anknüpfungspunkten in der Verfassung und der politischen Praxis der Weimarer Republik.[5] Das andere startet auf Seite 205 und hat die intellektuelle Biographie Nell-Breunings zum Gegenstand. Genauer gesagt: ihre Frühphase bis zur inneren Emigration in der NS-Zeit. Erstmals wird somit sein wirtschafts- und sozialpolitisches Frühwerk nach allen Seiten ausgeleuchtet. Hier erfährt man auch Neues über sein bisher nahezu unbekanntes praktisches Engagement, insbesondere bei den Einigungsverhandlungen um ein katholisches Versicherungswesen und Volkssparwerk.

In der Bonner Republik, nunmehr hochbetagt, gewann Nell-Breuning viel Anerkennung als "Nestor der katholischen Soziallehre". Freilich waren es zunächst vor allem außerkirchliche Beobachter, die ihm diesen Beinamen zuschrieben, während er im deutschen Katholizismus noch zu den umstrittenen Gestalten zählte - nicht zuletzt wegen seiner Nähe zur SPD des Godesberger Programms und seines Einsatzes für die paritätische Mitbestimmung. Der innerkirchliche Rangschub auf den Ehrenplatz des "Nestors" setzte erst in den 1970er Jahren ein. Nell-Breunings Werk und Wirken ist für die Zeit der Bonner Republik bereits gut untersucht. Dank Hagedorns Studie ist jetzt auch sein Weimarer Frühwerk eindringlich erschlossen. Daher lassen sich Kontinuitäten und Brüche im Jahrhundertleben (1890 bis 1991) eines Intellektuellen nun präziser erfassen, der seine Anschauungen in einzelnen Teilen und mehrfachen Schüben einer Revision unterwarf, aber immer an dem Ziel festhielt, den "Kapitalismus zu bändigen".[6]


Anmerkungen:

[1] Karl Dietrich Bracher: Die Krise Europas 1917-1975, Frankfurt/Main u.a. 1975, 20, anknüpfend an das von Hans Rothfels: Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), 1-8 gezeichnete "Dreieck".

[2] Andrea Rehling: Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise. Von der Zentralarbeitsgemeinschaft zur Konzertierten Aktion, Baden-Baden 2011.

[3] Oswald von Nell-Breuning: Um den berufsständischen Gedanken. Zur Enzyklika "Quadragesimo anno" vom 15. Mai 1931, in: Stimmen der Zeit 122 (1931), 36-52.

[4] Tim B. Müller / Adam Tooze (Hgg.): Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015.

[5] Aus einer politikwissenschaftlichen Dissertation (TU Darmstadt 2016) hervorgegangen, ist Hagedorns Studie mit der relevanten zeithistorischen Literatur weitgehend, doch nicht vollauf vertraut. Zu ergänzen sind u.a. Paul Nolte: Ständische Ordnung im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit. Zur Ideengeschichte einer sozialen Utopie, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, 233-256; Elke Seefried: Reich und Stände. Ideen und Wirken des deutschen politischen Exils in Österreich 1933-1938, Düsseldorf 2006.

[6] Bernhard Emunds / Hans Günter Hockerts (Hgg.): Den Kapitalismus bändigen: Oswald von Nell-Breunings Impulse für die Sozialpolitik, Paderborn 2015.

Hans Günter Hockerts