Karl-Heinz Braun / Wilbirgis Klaiber / Christoph Moos (Hgg.): Glaube(n) im Disput. Neuere Forschungen zu den altgläubigen Kontroversisten des Reformationszeitalters (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte; Bd. 173), Münster: Aschendorff 2019, IX + 404 S., ISBN 978-3-402-11607-4, EUR 68,00
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Die durch Martin Luther angestoßene reformatorische Bewegung hat ein Syndrom von Kontroversen erzeugt, in welchem sich die Frontverläufe immer weiter ausdifferenzierten und in immer wieder wechselnden Konfigurationen gegeneinander verschoben. In diesen Kämpfen bildeten sich allenthalben Beziehungen und Gruppierungen neu. Auch die zuvor fast flächendeckend allgemeinverbindliche Überzeugung, trotz aller Kritik an Einzelphänomenen sei die gegebene kirchliche Ordnung mit Papst und Messopfer, Mönchtum und sakraler Rechtsordnung das gottgewollte Ergebnis und Organ der durch "Jesum von Nazareth vollbrachten Erlösung" (Schleiermacher), wurde nun zur Signatur einer mit anderen konkurrierenden informellen Gruppe; salopp könnte man formulieren: Der zuvor allgemeingültige Minimalkonsens wurde zur Parteiparole. Ungeachtet dessen, dass sie aus ganz unterschiedlichen intellektuellen und institutionellen Milieus stammten und divergente Interessen vertraten, wurden deren Vertreter durch den Anprall des kategorialen Widerspruchs zur Gruppe der "altgläubigen Kontroversisten".
Diese Polarisierung zerriss einerseits gelehrte Freundschaften und Arbeitsgemeinschaften, anderseits brachte sie neue hervor (vgl. exemplarisch Christoph Moos, 201-216). Leider enthält der Band keinen Beitrag, der eigens die Fortdauer gelehrter Diskussionszusammenhänge über die aufbrechenden und sich verbreiternden Gräben hinweg thematisiert, so konfessionalisierte sich ja der Humanismus längst nicht restlos, denn philosophische Bewegungen wie die Rückbesinnungen auf die Stoa wie auf Aristoteles schufen bzw. verstärkten Verbindungslinien.
Aber zurück zu den neu aufbrechenden Polarisierungen selbst. Wieviel Mühe es kostete, das Terrain der Debatten durch angemessene Selbst- und Fremdbezeichnungen für Verbündete und Gegner neu zu kartieren, zeigt Bent Jörgensen (329-343): Ursprünglich integrativ konnotierte Begriffe wurden von den Theologen aller Seiten nun exklusiv beansprucht, und so bedurfte es juristischer Formulierungskünste zur Konstruktion einer Grundlage für politisch notwendige und gewollte Verständigungen (s. zu den politischen Implikationen und Folgen der reformatorischen Bewegung auch den Beitrag von Axel Gotthard, 95-121).
Nun fuhr die reformatorische Bewegung mitnichten in eine Atmosphäre monolithischer Einstimmigkeit hinein. Die abendländische Christenheit wurde, zumal seit dem 11. Jahrhundert, unaufhörlich durch Kontroversen aller Art in Bewegung gehalten. Die akademische Wissenschaft, auch und gerade die Theologie, hatte an der disputatio, also dem geregelten, auf Verständigung hin orientierten Austrag von Kontroversen, geradezu ihr Lebenselement, wie Peter Walter zeigt (25-45); in einem weiteren Beitrag erinnert er daran, welche Bedeutung der akademischen Theologie als institutionalisiertem Organ der Beratung für die päpstlich-kuriale Kirchenleitung zukam (143-157). Und die akademische Theologie des Altprotestantismus erweist sich im Rückblick auch darin als Nachblüte der mittelalterlichen Scholastik, dass hier, wie Kenneth Appold an Beispielen aus dem Luthertum zeigt, die Disputation als Kernstück akademischer Lehre und Bildung kultiviert wurde (65-74).
Diese Disputationskulturen konnten nur auf der Grundlage kategorialer Konsense gedeihen, und so gab es im Mittelalter auch immer Kontroversen, die nicht durch Disputationen lösbar waren - man denke an die beiden Runden des Streites um die Auslegung der Abendmahlsworte oder an die publizistischen und kirchenpolitischen Vernichtungsfeldzüge, die Bernhard von Clairvaux führte; seit dem späten 12. Jahrhundert wurde für derartige Fälle von weltlichen und geistlichen Instanzen das Ketzerrecht entwickelt.
Mit der päpstlichen Verurteilung durch die Bannbulle und deren Ergänzung durch den Wormser Reichstagsabschied 1521 waren Luther und die diffuse Schar seiner Anhänger als Häretiker gekennzeichnet, also als Menschen, mit denen kein schulmäßiger Disput mehr möglich sei. Dass es sich tatsächlich genauso verhielt, erwies das Scheitern der trotzdem weitergehenden dialogischen Verständigungsversuche. Spätestens nach der Phase der Religionsgespräche 1540/41 waren die kontroverstheologischen Auseinandersetzungen nicht mehr von der Erwartung motiviert, Gegner zu überzeugen, sondern von der Absicht, die je eigenen Anhänger zu bestärken und bei der Stange zu halten (Martin Hille, 345-366). Allerdings zeigt Kai Bremer (75-91), dass vergleichbare Absichten auch schon in der langwierigen Flugschriften-Kontroverse zwischen Luther und Emser im Anschluss an Luthers Adelsschrift (1520) im Spiel waren: Die beiden Kontrahenten mussten um die Deutungshoheit über den Streitgegenstand kämpfen, weil ihnen das gemeinsame Fundament kategorialer Vorgaben abhandengekommen war, auf welchem sie ihre Einzeldivergenzen konstruktiv zum Austrag hätten bringen können. Die Kontroversen entzündeten sich also eben nur scheinbar an Einzelfragen. In Wahrheit gründeten sie in kategorialen Differenzen und das zeigte sich daran, dass die Kontrahenten immer wieder unterschiedliche Sachverhalte meinten, wenn sie sich gleichlautender Worte und Begriffe bedienten.
Reformatorische Theologie polarisierte also, weil sie hergebrachte Vorstellungen und Begriffe mit neuen Inhalten füllte, die sie in voller Überzeugung und in legitimatorischer Absicht als die alten, wahren reklamierte. Sehr überzeugend zeigt Andreas Tacke (305-326), dass es sich auf dem Gebiet der bildenden Kunst ganz ähnlich verhielt: Es wurden in den entstehenden konfessionellen Milieus zwar auch Bildsujets neu eingeführt oder eliminiert, aber wichtiger waren die gegensätzlichen Konfigurationen und Funktionalisierungen vorgegebener Motive - was wohl damit im Zusammenhang steht, dass Kunstproduzenten wie die Cranach-Werkstatt anfangs von beiden Seiten des entstehenden konfessionellen Grabens Aufträge annahmen.
Der zugleich disruptive und innovatorische Charakter reformatorischen Christentumsverständnisses zeigt sich kaum irgendwo so deutlich wie an dem Begriff, den dieser Band im Obertitel trägt, dem des Glaubens. Seit seinen Erläuterungsschriften zu den 95 Thesen war es deutlich: Wenn Luther prononciert vom "Glauben" sprach, dann meinte er nicht mehr das, was das kirchliche Gemeinbewusstsein darunter verstand, nämlich die gehorsame Annahme der kirchlichen Lehrverkündigung als erste und oberste Pflicht des als Säugling getauften Christen: Nach reformatorischem Verständnis ist Glaube vielmehr der subjektive Widerschein von Gottes worthaftem Handeln im und am Gewissen des einzelnen Menschen in Gesetz und Evangelium. So taten sich unversehens kontradiktorische Gegensätze in scheinbaren Eindeutigkeiten auf. Sie wurden zunächst wohl intuitiv wahrgenommen und trafen auf unterschiedliche mentale und intellektuelle Prädispositionen. So erzeugten sie Zustimmung und Ablehnung, sie polarisierten, sie spalteten.
Der Hauptstrom protestantischer Reformationsgeschichtsforschung widmet sich in erster Linie solchen Menschen, die den innovativen Impuls positiv aufnahmen und dann je unterschiedlich verarbeiteten. Diejenigen, die sich zurückgestoßen fühlten, nimmt sie erst dann wahr, wenn und sofern sie als Störfaktoren auf sich aufmerksam machen. Das ist misslich, denn eigentlich interessant gerade an diesen Akteuren ist doch die Phase der Erstbegegnung mit dem Neuen, die Zeit des Wahrnehmens und Erwägens. In ihr sind die Motive entstanden, welche die künftigen "altgläubigen Kontroversisten" zu ihrem Nein bewogen haben. Und die Motive, die zu diesem Nein geführt haben, sind eben in dieser Phase der prinzipiell ergebnisoffenen Erstbegegnung am ehesten zu fassen, also vor der Formung und Verhärtung zu polemischen Stereotypen in der schulmäßigen Reflexion und in der literarischen Polemik. Untersuchungen zu dieser Frühphase, in der der reformatorische Impuls erwogen und für verfehlt befunden wurde - anbieten würden sich Eck oder Erasmus von Rotterdam - enthält der Band nicht. Aber in diese Richtung, in der weiter zu suchen wäre, verweist der unbedingt lesenswerte Beitrag von Anne Conrad (283-303). Sie stellt Nonnen wie Caritas Pirckheimer vor, die, ruhig und klar argumentierend, gegen den von Luther vorgetragenen Angriff auf das asketische Lebensideal an ihrem Lebensstand festhielten, weil er ihnen in höherem Maße als das Leben in Ehe und Familie Freiheit gewähre - zur Christus-Nachfolge. Sie mögen erkannt haben, dass Luthers neuartiger, durch die radikale Ausschaltung des Verdienstmotivs strukturierter Begriff einer Freiheit, die den Ort ihrer Verwirklichung in den naturwüchsigen Strukturen sozialen Lebens hat, seinerseits tief in einem spezifisch monastischen Freiheitsdenken verwurzelt war. Und in der Konfrontation mit der disruptiven reformatorischen Neufassung des Freiheitsbegriffs beharrten sie, klar und unaufgeregt wahrnehmend und argumentierend, auf seinem traditionellen Gehalt.
Dieser Band ist hervorgegangen aus einer Freiburger Tagung im März 2017, die maßgeblich von Peter Walter konzipiert worden war. Ihm, der 2019 verstarb, ist das Buch auch gewidmet. Es ist sehr zu wünschen, dass es in seinen Erträgen, aber auch durch die Rückfragen, zu denen es Anlass gibt, einen kräftigen Impuls zur Beschäftigung mit solchen Zeitgenossen gibt, die sich der Reformation dezidiert widersetzten, denn hierdurch wird die Suche nach dem eigentlich Reformatorischen ebenso gefördert werden wie das Verständnis der nachreformatorischen Katholischen Kirche in ihrer graduellen Unterschiedenheit von der spätmittelalterlichen Papstkirche und ihrer kategorialen Differenz zu den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchentümern.
Martin Ohst