Eileen Boris: Making the Woman Worker. Precarious Labor and the Fight for Global Standards, 1919-2019, Oxford: Oxford University Press 2019, 344 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-087462-9, GBP 22,99
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In die Liste der Jubiläen des Jahres 1919 und der dazugehörigen Veröffentlichungen lässt sich auch die Gründung der International Labour Organization (ILO) und die neueste Monografie von Eileen Boris einreihen. Doch ihr Werk ist mehr als eine bloße Festschrift. Boris erklärt Leserinnen und Lesern von heute, wie Machtmechanismen und Netzwerke der Vergangenheit die Arbeitswelt von Frauen auf der gesamten Welt beeinflussten und zudem Auswirkungen bis in die Gegenwart zeitigen.
Im englischen Titel "Making the Woman Worker" ist bereits eine der Kernthesen des Buches enthalten: Frauen werden erst durch die meist männlichen Zuschreibungen von außen, in diesem Fall durch den Prozess der Standardsetzung durch die ILO, zu "Arbeiterinnen" oder "weiblichen Angestellten" erhoben. Gleichzeitig wird auch das, was gemeinhin als "Arbeit" gilt, erst durch das Festlegen von Arbeitsnormen definiert (2).
Boris gliedert ihre Erzählung in drei Abschnitte, die drei Zeiträumen entsprechen, in denen sie unterschiedliche Schwerpunkte setzt. Der erste beginnt 1919 und beschreibt die Zeit, in der Frauen von der ILO als anders, als abweichend von der Norm des männlichen, westlichen Industriearbeiters, dargestellt wurden. Sie setzt ein mit dem Gründungsjahr der ILO 1919 als ständige Einrichtung des Völkerbundes und später als Sonderorganisation der Vereinten Nationen (UN) sowie dem ersten International Congress of Working Women, und endet mit den Debatten um die Discrimination (Employment and Occupation) Convention 1958. Boris beobachtet und beschreibt Prozesse des Beschützens (Kap. 1: "Protection") und unterschiedliche Interpretationen von Gleichheit (Kap. 2: "Equality"). Zunächst ging es der ILO darum, (westliche) Frauen (in der Industrie) mittels Konventionen gegen Ausbeutung und vor gesundheitlichen Gefahren zu schützen. "But such special treatment risked reinforcing existing hierarchies based on gender, age, race, geography, class, caste, and other statuses". (52) Später führte eine weltweite Nachfrage nach weiblicher Arbeitskraft dazu, dass sich die ILO für Gleichbehandlung und gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz einsetzte. Den Fokus legte sie - auch vor dem Hintergrund des Kalten Krieges - zunächst auf gleiche Bezahlung. Dadurch aber stellte sie die von feministischen Kreisen proklamierte allgemeine Gleichheit als Ziel zurück und vernachlässigte die Arbeitsbedingungen von Frauen in Heimarbeit und bei der Hausarbeit. Darüber hinaus blieben Frauen durch die neuen Schutzinstrumente der Reproduktionssphäre und der Familie zugeordnet. Außerdem existierten weiterhin große Unterschiede zu Frauen in den (ehemaligen) Kolonien.
Genau um diesen weiteren Unterschied geht es im zweiten Teil. "Frauen in 'sich entwickelnden' Ländern" seien doppelt different, damit doppelt benachteiligt und ihre Arbeit werde nur halb so wertgeschätzt wie die von Frauen in Industrieländern (86 f.). In den drei Kapiteln "Development", "Reproduction" und "Outwork" führt Boris einzelne Beispiele dieser zweiten Jahrhunderthälfte an - unter anderem die Entstehung der UN-Frauenrechtskonvention, das Programme on Rural Women der ILO und die Aktivitäten der Self-Employed-Womens Association of India (SEWA). Sie zeigt damit einerseits, wie sich Hierarchien der Arbeit und der Standardsetzung durch die ILO auf globaler Ebene fortsetzten und andererseits, wie wichtig lokale Initiativen für globale Veränderungen sein konnten. Spätestens mit der Home Work Convention im Jahr 1996, konstatiert Boris, habe sich die ILO neu ausgerichtet und vormals ausgeschlossene Arbeiterinnen und informelle Arbeiten miteinbezogen.
Der dritte Teil umfasst die Zeit ab den 1990er Jahren und widmet sich vor allem dem Themenkomplex der Heim- und Sorgearbeit. Zum einen geht es um vormals weniger bedeutendere Sektoren, die sich innerhalb der ILO einen Platz, eine Stimme und Rechte für ihre Arbeit und ihren (Heim-)Arbeitsplatz erkämpft haben. Hierzu verabschiedete die ILO im Jahr 2011 die Domestic Workers Convention, die bis Frühjahr 2019 von 27 Staaten ratifiziert wurde. Zum anderen befasst sich das abschließende Kapitel mit der Arbeitswelt im Allgemeinen und deren Zukunft, die immer diffuser zu werden scheint. Die zurückliegenden 30 Jahre können laut Boris als Jahrzehnte gelten, in denen viele Bereiche der Arbeit "feminisiert" (1) wurden - was in ihren Augen bedeutet, dass immer mehr Bereiche der Arbeit von Teilzeitarbeit, kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen, unfreiwilliger Selbstständigkeit und niedriger Bezahlung geprägt sind. Die Ordnung der Arbeitswelt des 21. Jahrhundert baue also auf dem Umgang mit arbeitenden Frauen im 20. Jahrhundert auf, lautet dementsprechend eine weitere Kernthese ihres Buches.
Es ist sicher nicht übertrieben von Eileen Boris als einer der maßgeblichen amerikanischen labour historians zu sprechen. Ihre Schwerpunkte sind Heimarbeit, Hausarbeit und Sorgearbeit. Diese Themen finden sich in ihrem Buch zur ILO wieder. Das Archivmaterial der einzelnen Kapitel stammt fast ausschließlich aus dem Archiv der ILO und wurde von Boris zum Teil bereits in früheren Publikationen verwendet. Dies tut der Qualität des Buches keinen Abbruch. Für die deutsche Arbeitsgeschichtsforschung kann es wertvolle Einblicke liefern und zu neuen Perspektiven anregen, denn noch immer dominieren hier die Betrachtung des männlichen Industriearbeiters und dessen Niedergangs. Die Erforschung von globalen Arbeitszusammenhängen sowie informellen Beschäftigungsverhältnissen, vor allem im Dienstleistungssektor, findet in der deutschen Forschung hauptsächlich in der Arbeits- und Industriesoziologie statt, obwohl diese Aspekte sowohl in der globalen Arbeitsgeschichtsforschung als auch in der realen Welt der Arbeit an Bedeutung gewinnen. Für die schnelle Lektüre wäre ein allgemeines Fazit oder eine Zusammenfassung hilfreich gewesen, so aber muss der Klappentext oder die instruktive Einleitung dafür herhalten.
Einen großen Mehrwert liefert der Rahmen, der Boris' Erzählung umspannt. Sie verwendet das Konzept des Othering und überträgt es auf arbeitende Frauen. Durch die Kulturen des Beschützens würden sie ungleich gemacht: die Schutzmechanismen schienen sich auf die Arbeit zu beziehen, tatsächlich aber berührten sie andere Aspekte, wie Moral, Sexualität, Familienstrukturen und Gendernormen. Dies ist eine Interpretation gewerkschaftlicher Interessenvertretung, die quer zur traditionellen Vorstellung liegen mag und nicht nur auf Zustimmung stoßen wird, die aber eine neue Perspektive bringt, mit der die zukünftige Forschung zur Frauenarbeitsgeschichte weiterarbeiten kann. Boris unterstreicht die Bedeutung von meist männlich und westlich geprägten Entscheidungsstrukturen und Beteiligungsprozessen, auch und gerade in Institutionen und Organisationen wie der ILO. Außerdem führt sie in bewundernswerter Weise vor, wie die vielfach geäußerte Forderung nach Intersektionalität in der empirischen Forschung umgesetzt werden kann.
Eileen Boris zählt zu einem neuen, öffentlichkeitswirksamen Typ Wissenschaftlerin, wie auch ihr Twitter-Account zeigt, auf dem sie sich selbst als "feminist historian and theorist, commentator and activist in women's labors" bezeichnet. Sie ist sehr darauf bedacht, die Gegenwartsrelevanz ihrer Forschung deutlich zu machen und aktuelle Entwicklungen durch Forschung zu beeinflussen: "[D]oing writing that matters" (xi) ist eines ihrer Ziele. Dass ihr das gelingt, beweist sie mit "Making the Woman Worker".
Manuela Rienks