Alain Duplouy: Construire la cité. Essai de sociologie historique sur les communautés de l'archaïsme grec (= Collection "Mondes anciens"), Paris: Les Belles Lettres 2019, 340 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-2-251-45028-5, EUR 35,00
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In diesem Buch führt Duplouy weiter, was er in seinem 2006 erschienenen "Le Prestige des Élites. Recherches sur les modes de reconnaissance sociale en Grèce entre les Xe et Ve siècles avant J.-C." begonnen hatte, nämlich dem Verhältnis zwischen Individuen und Gemeinschaft nachzuspüren. Wurde im genannten Buch die Existenz einer Aristokratie im archaischen Griechenland infrage gestellt, so untersucht er im vorliegenden das Verhältnis zwischen Individuen und den aus ihnen gebildeten Gruppen, genauer: wie in nachmykenischer Zeit in über Jahrhunderte währenden Aushandlungsprozessen von Individuen Poleis gebildet wurden. Für die Notwendigkeit, die Perspektive des "construire" einzunehmen, wird in der die methodische Position absteckenden Einleitung damit argumentiert, dass die bisherige Forschung in der Frage der Entstehung der für 'die Griechen' als charakteristisch erachteten Polis von einem verfassungsgeschichtlichen, an (staatlichen) Institutionen orientierten Zugang bestimmt gewesen sei. Mit weitgehendem Schwerpunkt auf der französischen Forschung diagnostiziert er die Vorstellung einer "idée de la rationalité" (14), dergemäß die Bildung der Polis die Folge einer rational getroffenen politischen Entscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt (meist im 8. Jh.) gewesen sei. Als Beispiele hierfür nennt er die Beschreibung der archäologischen Befunde von Megara Hyblaia und Eretria als eine Entwicklung dieser Orte nach einem vorgegebenen Plan, oder auch die Vorstellung einer rational durchdachten Installierung der Phylen und Phratrien im Kontext der Entstehung der Polis. In einem solchen Vorgehen sieht er die Gefahr, sich die Ausbildung der Polis wie in einem utopischen Konzept bzw. nach einem der Polis "eingeschriebenen Programm" (21) vorzustellen. Mit Verweis auf Josine Blok stellt er gegen diese Art der Rationalität die Möglichkeit eines offenen Prozesses, der - so François de Polignac - eng mit der Agora verbunden war (16) und - wie Paulin Ismard formuliert - "opère transversalement plutôt que de haut en bas" (22). Es gehe daher ganz nach Thukydides (7, 77, 7) nicht um Institutionen, sondern darum, wie in diesem "age of experiment" (A. Snodgrass) es sein konnte, dass die Menschen die Polis machten (andres gar polis) - somit um drei grundlegende Fragen: Wie formten sich die Poleis? Wie "erkannten" einander die Menschen als Bürger einer Polis? Wie verliehen sich diese Gebilde Dauer?
Im ersten der Behandlung dieser Fragen noch vorangestellten Kapitel "Quelle cité?" sucht Duplouy weiter zu klären, was die Natur der "cité grecque archaïque" war. Diese sieht er nicht im "cité-état", wie das meist aus den im klassischen Athen formulierten Quellen des 5. und 4. Jh.s abgeleitet wird. Gegen diese als anachronistisch beurteilte Auffassung fordert er - neuerlich mit Bezug zu de Polignac - eine gesamthafte Betrachtung der Gesellschaft, um die "réalité sociale" erfassen zu können. Diese bestehe in einer "nouvelle forme de cohérence sociale" (36). Sie werde über eine Vielfalt an Kanälen erzeugt, da die Polis aus einer Vielzahl an Gemeinschaften besteht. Somit sei zu fragen, wie die Verbindung zwischen Individuum und Bürgerschaft (citoyenneté) zustande kommt. Charakteristisch für die Argumentationsweise von Duplouy ist der Verweis auf schon erzielte bzw. von ihm selektierte Ergebnisse in der Forschung. In diesem Fall ist es die Unterscheidung zwischen "individu" und "personne", wie sie Jean-Pierre Vernant traf. Damit ist ungefähr das gemeint, was der in der Argumentation erst später herangezogene Aristoteles unter zoon politikon versteht, nämlich dass ein Individuum nur in seiner Verbindung mit einer "collectivité politique" (40) existieren konnte; das habe sich erst mit dem Auftreten des Christentums geändert. Parallel dazu wird die Vorstellung abgewehrt, dass die Polis das Ergebnis einer evolutiven Entwicklung sein könnte. Die Polis bestehe einfach in einer Form der Partizipation der Individuen am gemeinschaftlichen Leben.
Im zweiten Kapitel "Esquisser les contours de la communauté" wird zur Umschreibung, was eine derartige Gemeinschaft ist, die Gleichsetzung von Kultur und cité als heuristisches Mittel verwendet. So eröffnet sich die Möglichkeit, in kulturellen Verhaltensformen, Gesetzen, Sitten, Bräuchen u. ä. Marker für Zugehörigkeit zu sehen. Dieses Argument wird in einen weiten Horizont eingebettet, der von Polanyi und Bourdieu über Max Weber bis zu Wittgenstein reicht. In Summe heißt das: "les modes de vie" als kollektive Praktiken 'konstruieren' in Verbindung mit individuellem Verhalten jede einzelne cité in spezifischer Weise. Doch um den Mechanismen der dadurch ausgelösten, als spezifisch angesehenen Prozesse näher zu kommen, beruft sich Duplouy auf ein generelles, ethnisch anmutendes Prinzip: für die soziale Dynamik 'der Griechen' sei der Agon grundlegend, insofern er Inklusion und Exklusion zur Folge hat (69). Zum Nachweis der Gültigkeit dieser verschiedenen Thesen werden drei bekannte Felder mit Blick auf ihre vergemeinschaftende Funktion analysiert: kultische Orte, Kultmahle, Nekropolen.
Vom Beginn der Heiligtümer im 11. Jh. an signalisieren die hier vollzogenen Kulte eine gemeinschaftlich-solidarische Aktivität, die sich deutlich im Opfermahl als "commensalité" niederschlägt. Ähnliches dokumentieren die "maisons de chefs" in den geometrischen Siedlungen, in denen sich Hinweise auf eine Verbindung von Opfer und Bankett finden - als Vorläufer für Abläufe in den erst später errichteten Tempeln interpretiert. Der Zusammenhang von Bankett und Gemeinschaft wird dann an einzelnen Beispielen (Isthmia, Lykaion, Kalapodi, Helike) weiter ausgeführt. Hier wie auch im Weiteren tendiert Duplouy dazu, gemeinhin als elitär Etikettiertes in seinem sozialen Bezug zu relativieren und mit der Gemeinschaft insgesamt in Verbindung zu bringen. So wendet er sich auch gegen die von Ian Morris gezogene Verbindung von "formal burial" mit einer postulierten sozial abgegrenzten Gruppe von "agathoi" und sieht dagegen - nun aus Quellen der klassischen Zeit (Thukydides, Aristoteles, Athenaion Politeia; Redner des 4. Jh.s) abgeleitet - eine deutliche Verbindung zwischen Familiengrab und Bürgerzugehörigkeit auch in archaischer Zeit. An konkreten Beispielen (Argos, Korinth, Lefkandi-Xeropolis, Eretria, Attika, Sizilien) versucht Duplouy dann die regionale Unterschiedlichkeit desselben Grundmusters nachzuzeichnen, um so die Grundthese von der Lebensweise als dem Marker bürgerlicher Zugehörigkeit zu bestätigen.
Dies führt zur Beantwortung der zweiten der drei einleitend genannten grundlegenden Fragen im Kapitel "Créer un entre-soi". Menschen erkennen andere über Repräsentationen und Verhalten als zur selben Gemeinschaft zugehörig. Unter die Repräsentationen wird eine "culture visuelle civique" subsumiert, Bilder des täglichen Lebens und Formen des Stils. Hierüber werden soziale Normen transportiert und Konsumptionsentscheidungen vorbereitet, also das soziale System reproduziert. Duplouy analysiert als Belege für diese Zusammenhänge u.a. die geometrischen Grabkratere aus Athen, den besonderen Fall der Bestattung von 150 Gefallenen auf Paros oder die verschiedenen Terrakotta- und Bronzestatuetten aus Olympia, deren Ikonographie die Weihenden als Bürger charakterisiere. Unter dem Stichwort 'Stil' erweitert er die von Ernst Langlotz voneinander abgegrenzten Bildhauerschulen zu einem Stilwettbewerb, der in jeder cité stattgefunden habe.
Im Verhalten von Menschen kommt somit ein "style de vie" zum Ausdruck, der das soziale Erkennen erlaubt. Mit Bezug zu der von Thukydides (1, 6) getroffenen Feststellung, dass man früher in Hellas Waffen getragen habe, wie das zu seiner Zeit noch die Barbaren machen würden, werden zwei "modes de vie" unterschieden. Diese werden aber nicht chronologisch hintereinander gereiht, sondern für die archaische Zeit als nebeneinander vorhandene Lebensweisen angesehen; erst mit der Klassik habe sich das geändert. Die Argumentation dafür holt sehr weit aus, tendiert jedoch dazu, den Bezug zu der Grundthese zu verlieren, dass jede Polis ihre spezifische Lebensweise gehabt habe. Es werden z. B. die von Xenophanes kritisierten chilioi in eine Reihe mit den einen luxuriösen Lebensstil pflegenden Sybariten gestellt, und diese wie z.B. die Hippeis in Athen als Bürger der Stadt interpretiert. Duplouy beschäftigt sich in diesem Kontext auch ausführlich mit der Nacktheit der griechischen Athleten. Diese sei als bürgerliches Verhalten zu interpretieren, wie das im griechischen Wort gymanzo schon angelegt sei.
Es bleibt noch zu klären, wie sich eine über den von ihren Mitgliedern gepflegten Habitus definierende bürgerliche Gemeinschaft verstetigen kann. Dieser Frage ist das letzte Kapitel "Perpétuer la communauté" gewidmet. Hier beginnt Duplouy mit Aristoteles' Feststellung (Politeia 1276 b, 2-4), dass dann, wenn sich die Art der Regierung ändert, die Polis nicht mehr dieselbe sei. Duplouy ordnet diese Überlegung dem verfassungsrechtlichen Zugang zu und wendet dagegen ein, dass eine cité im chronologischen Ablauf eben keinem vorgegebenen Programm folge und kein System bilde. Es sei eher so, wie Georg Simmel meint, dass Flexibilität und Veränderung ein Überlebensprinzip darstellen würden. Die Konkretisierungen für diese These bringen keine großen Überraschungen. Erbe und Erbschaft sorgen für Kontinuität über Veränderungen hinweg. Das schlägt sich in Familiengräbern ebenso nieder wie in den Ahnen der Bürger, die in den Phratrien verehrt werden. Weiters werden, wie z.B. in Syrakus, zu den ersten Siedlern führende Fiktionen der Abstammung der Gemeinschaft angeführt, über die die Verstetigung der Gemeinschaft angezeigt werde. Und es ist schließlich die Erziehung, welche dazu dient, die geltenden Normen zu verinnerlichen. Zur Erläuterung wird auf drei Felder verwiesen, die ausführlich über verschiedene konkrete Beispiele als Orte der bürgerlichen Selbstvergewisserung vorgeführt werden: Jagd und Päderastie; Musik, Gesang und Tanz; Wein und gemeinsames Mahl - Aufnahmerituale, Kooperation und Anwendung der geltenden Normen.
Das Buch bietet einen wichtigen Beitrag zur notwendig gewordenen Distanzierung gegenüber der alten Vorstellung von einer in der griechischen Archaik dominierenden Aristokratie und von einer durch eine klare soziale Opposition gekennzeichneten Polis. Das Buch fügt sich damit in die aktuelle Tendenz, generell nicht (mehr) mit festen Institutionen zu rechnen, sondern mit unterschiedlichen Formen und Graden an Staatlichkeit, wie das schon für die römische Republik oder auch die Poleis in Kreta erfolgreich wahrscheinlich gemacht worden ist. Es beeindruckt durch seine Fülle an Beispielen und die Vielzahl der an sie herangetragenen unterschiedlichen Gesichtspunkte. Natürlich lässt sich im konkreten Einzelnen auch vieles diskutieren, sowohl in der Interpretation der Texte als auch der archäologischen Befunde. Doch es überrascht, dass die mehrfach benützte Folie der Ethnologie/Anthropologie bzw. die von dort bezogenen Analogien nicht auch dafür bemüht wurden, um eine präzisere Definition von "communauté" zu erreichen, um die nicht zu übersehende 'Lücke' zwischen Individuum und Gemeinschaft zu schließen. Denn gerade auf diesem Weg wurde seit einigen Jahrzehnten schon für die griechische Archaik ein neues Bild gezeichnet, das zur Plausibilität einer nicht an Institutionen orientierten Beschreibung der Polis viel beizutragen hätte. Insgesamt jedoch: sich auf dieses Buch einzulassen heißt, neu über die eigene(n) Sichtweise(n) nachdenken zu müssen.
Christoph Ulf