Michael Borchard / Stefan Karner / Hanns Jürgen Küsters u.a. (Hgg.): Entspannung im Kalten Krieg. Der Weg zum Moskauer Vertrag und zur KSZE, Graz: Leykam Buchverlag 2020, 800 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-7011-0447-5, EUR 44,90
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Ein zweifaches "Chapeau!" gilt den Herausgebern des Sammelbandes: Sie haben sich die Internetdomain www.ostpolitik.de gesichert und damit allen sozialdemokratisch orientierten Einrichtungen ein Schnippchen geschlagen. Wichtiger aber ist, dass sie bisher unzugängliche Quellen sowjetischer Provenienz erschlossen haben, die künftig der Forschung zur Verfügung stehen werden. Es handelt sich um die Fonds F 3 (Beschlüsse und Unterlagen des Politbüros), F 5 (Internationale Abteilung des ZK) und F 80 ("Handakten" von Leonid I. Breschnew), allesamt aus dem Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte. Dokumente daraus konnten die Autorinnen und Autoren der 33 Beiträge des Bandes bereits nutzen. Die genannte Internetseite präsentiert gegenwärtig (Mitte August 2020) 72 Schriftstücke als Scans der Originale und in deutscher Übersetzung. Im Buch ist sogar die Rede von "über 100 Schlüsseldokumenten", die im Juni 2020 online gestellt werden sollten. Man kann also noch auf mehr hoffen.
Das gedruckte Werk gliedert sich in die Abschnitte "Der lange Weg zum Moskauer Vertrag", "Entspannungspolitik unter Brežnev", "Die Wirtschaft - Triebfeder deutsch-sowjetischer Entspannung", "Die Folgen des Moskauer Vertrages für die Warschauer-Pakt-Staaten", "Die NATO - nationales Interesse, gemeinsames Handeln", "Die Neutralen in der Détente" und schließlich "Die Etappen zur KSZE". Die Autorinnen und Autoren sind vielfach bekannte Expertinnen und Experten ihres Gebietes (Wanda Jarząbek, Mark Kramer, Angela Romano, Douglas Selvage u. a.). Doch vor den unverzichtbaren Spezialisten in den hinteren Abschnitten steht im ersten Kapitel eine Phalanx eher konservativer Autoren, was nicht auffiele, fehlten nicht zugleich einschlägig ausgewiesene Forscherinnen und Forscher wie Gottfried Niedhart, Bernd Schäfer, Wolfgang Schmidt oder sogar die Breschnew-Biographin Susanne Schattenberg. Stärker als unabweisbar merkt man dem Werk eine geschichtspolitische Tendenz an.
Dies setzt sich in der Einleitung fort. Dort benennen die Herausgeber, die je zur Hälfte in der Konrad-Adenauer-Stiftung und im Grazer Ludwig-Boltzmann-Institut tätig sind, drei grundlegend neue Erkenntnisse, welche die bisher verschlossenen Quellen und die Aufsätze im Buch brächten:
- "Bisher wird die veränderte Deutschland-, Ost- und Entspannungspolitik oftmals allein als Erfolg Willy Brandts dargestellt. Tatsächlich war es Brežnev, der die Klinke betätigte, um selbst eine aktivere Westpolitik betreiben zu können."
- "Entscheidend für die politische Annäherung waren wirtschaftliche Vorleistungen. Die Bundesrepublik benötigte Energie, die Sowjetunion westliches Know-how und die Einnahmen aus dem Energie-Export."
- "Die 'neue' Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts war nicht der Beginn einer neuen Epoche, sondern an vielen Stellen eine Fortschreibung der bereits in der Ära Adenauer angelegten Entwicklungen." (Alle Zitate 11)
Keine dieser Thesen kann in den der Einleitung folgenden Aufsätzen ausreichend durch Quellen belegt werden; kaum ein Beitrag der Abschnitte 2 bis 7 greift sie überhaupt auf.
Dass der Ansatz von Brandt und Scheel nur dann Erfolg haben konnte, wenn die Sowjetunion mitziehen würde, das war beiden bewusst: "Der Schlüssel liegt in Moskau", lautete die Formel. Von dort kamen im Laufe des Jahres 1969 vermehrt Signale der Gesprächsbereitschaft. Aber ohne einen Gegenpart in Bonn, der bereit war, Neues zu wagen, hätte es die Ostverträge nicht gegeben. Breschnew drückte die Klinke, nachdem Brandt an den formal zuständigen Ministerpräsidenten Kossygin geschrieben und Verhandlungen angeboten hatte. Michail Prozumenščikov rückt in seinem Beitrag über "Brežnev und Brandts 'neue Ostpolitik'" die Behauptung aus der Einleitung zurecht. Bei ihm ist die Rede von "positive[n] Reaktionen" (108, Hervorhebung des Rezensenten) der Sowjetführung auf die ersten Etappen der Brandt'schen Politik. Eine entscheidende Rolle habe der KPdSU-Generalsekretär jedoch innerhalb der sowjetischen Machtstruktur gespielt. Ab dem Frühjahr 1970 habe er in Moskau die Führung in außenpolitischen Fragen übernommen. Nikolaj Pavlov kommt zu einem ähnlichen Schluss. Gestützt auf die neu zugänglichen Archive antwortet er auf die im Titel seines Aufsatzes selbst gestellte Frage: "'Neue Ostpolitik' der BRD oder 'Neue Westpolitik' der UdSSR?", dass es ohne die Neue Ostpolitik keine KSZE gegeben hätte, aber dass die Neue Ostpolitik auch der "'Neuen Westpolitik'" (119) der Sowjetunion bedurfte. Was die zeitliche Abfolge der Ereignisse angeht, hält Pavlov fest, dass Brandt den ersten Schritt tat, auf den die Sowjetunion reagierte (127). Diese abgewogene, durchaus nicht neue Erkenntnis steht im Kontrast zur Spekulation der Herausgeber.
Auch für die These, die "wirtschaftlichen Vorleistungen" seien entscheidend gewesen, gilt, dass sie die Proportionen verzerrt. Die "Neue Ostpolitik" und die sowjetische Reaktion darauf waren politische Strategien, um die Lage in Europa zu entspannen, den Ost-West-Konflikt zu entschärfen und (so jedenfalls die Absicht auf westlicher Seite) den Menschen das Leben zu erleichtern. Wirtschaftliche Interessen beförderten dies, waren aber bei Weitem nicht "entscheidend". Der Energiehunger der Bundesrepublik wäre auch ohne das sowjetische Erdgas zu stillen gewesen.
Und schließlich suchen die Leserinnen und Leser vergeblich eine Erklärung, warum die zeitgenössische CDU/CSU mit aller Macht versuchte, die "Neue Ostpolitik" zu vereiteln, obwohl diese doch angeblich in großem Umfang den Spuren Adenauers folgte. Hinweise von Willy Brandt selbst auf Elemente der Kontinuität in seiner Herangehensweise überzeugten jedenfalls Rainer Barzel, Kurt Georg Kiesinger und Franz Josef Strauß nicht. Es war dann doch weit überwiegend ein neuer Ansatz.
Die Kritik an den überzogenen, teils in die Irre führenden Thesen der Einleitung schmälert nicht den Respekt vor mancher neuen Erkenntnis in einzelnen Beiträgen. Als Beispiel möge Kai Wambachs Schilderung des Moskau-Besuchs von Barzel im Dezember 1971 dienen. Mit den sowjetischen Akten kann er zeigen, wie die dortige Führung in Abstimmung mit der Bundesregierung es dem Oppositionsführer unmöglich machte, bei seiner Visite auch nur einen einzigen greifbaren Erfolg zu erzielen.
Im krassen Gegensatz zu Wambachs aus den Quellen gearbeitetem Aufsatz steht der Beitrag von Mark Kramer. Der ansonsten für seine akribischen Archivstudien zur Geschichte des Kalten Krieges bekannte polyglotte Harvard-Professor tischt nicht nur verallgemeinernde Thesen über den Zusammenhang der Invasion der Tschechoslowakei 1968 mit der Genese der "Neuen Ostpolitik" auf, für die er an entscheidenden Stellen den Beleg schuldig bleibt. Mehr noch: Unter Verweis auf ein CIA-Dokument behauptet er, Willy Brandt habe die Verhängung des Kriegsrechts über Polen im Dezember 1981 als "'unumgänglich'" (246) bezeichnet. Prüft man seine Quelle, dann zeigt sich, dass dies dort gar nicht steht.
Auch über internen Streit in der Sowjetunion informiert der Band. Michail Prozumenščikov meint, dass es in der Haltung zur Ostpolitik "zwischen den hochrangigen sowjetischen Politikern" keine "ernsthafte[n] Meinungsverschiedenheiten" gegeben habe (110). Dem widerspricht Nikolaj Pavlov. Boris N. Ponomarev und Nikolaj Podgornyj sind einige derer, die er als Gegner von Breschnews Kurs benennt (vgl. 125, 129, 131). Breschnew konnte sich aufgrund seiner institutionellen Stärke als Generalsekretär durchsetzen und weil die Mehrheit des Politbüros in dem Streit gegen die protestierende Minderheit "eine gleichgültige und abwartende Position" einnahm. Von großer Bedeutung war auch die Unterstützung Andrej Gromykos für Breschnew. Damit widerspricht Pavlov Susanne Schattenberg, die den Außenminister, der zu dieser Zeit noch nicht Mitglied des Politbüros war, zu den Hardlinern zählt (https://willy-brandt.de/neuigkeiten/50-jahre-moskauer-vertrag/).
Bei der Präsentation betonten die Herausgeber, mit dem Band keine geschichtspolitischen Intentionen zu verfolgen. Tatsächlich handelt er von mehr als von Archivfunden. Er unternimmt im ersten Abschnitt den Versuch einer späten Rechtfertigung der Reaktion der Unionsparteien auf die sozial-liberale Ostpolitik. Dies wird sicherlich noch zu weiteren Debatten führen. Hoffentlich überstehen viele Exemplare die dazu erforderliche intensive Lektüre unbeschadet; die Bindung des Rezensionsexemplars hingegen hielt die 800 Seiten nur kurze Zeit zusammen.
Bernd Rother