Rezension über:

Stefanie Gerlach / Christian Kuchler / Marc van Berkel (Hgg.): Grenzgänger. Die Wahrnehmung der deutschen Wiedervereinigung in der Grenzregion Niederlande/Deutschland (= Wochenschau Wissenschaft), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2018, 296 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-0678-2, EUR 39,90
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Rezension von:
Frank Britsche
Historisches Seminar, Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Frank Britsche: Rezension von: Stefanie Gerlach / Christian Kuchler / Marc van Berkel (Hgg.): Grenzgänger. Die Wahrnehmung der deutschen Wiedervereinigung in der Grenzregion Niederlande/Deutschland, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 10 [15.10.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/10/34021.html


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Stefanie Gerlach / Christian Kuchler / Marc van Berkel (Hgg.): Grenzgänger

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Der Titel des Bandes deutet bereits darauf hin, dass sich über Grenzen hinweg transnationale geschichtskulturelle Aushandlungsprozesse vollziehen, insbesondere bei kontrovers debattierten Geschehnissen, deren langfristige Folgen nicht abgeschlossen scheinen. So auch im Falle der noch immer im kommunikativen Gedächtnis verankerten - und besonders zu Jubiläen und Jahrestagen vielfach medial aufbereiteten und kontrovers diskutierten - zeithistorischen Ereignisse um die deutsche Einheit, die sich zum 30. Male jährt.

Die Aufarbeitung der Ereignisse von 1989/90 wurde in den letzten zehn Jahren nicht nur historiografisch, sondern auch erinnerungskulturell breit erforscht, jedoch überwiegend aus einer deutsch-deutschen, zuweilen auch transnational-osteuropäischen Perspektive. Dies mag angesichts der unmittelbaren Auswirkungen und Veränderungsprozesse im Zuge von Revolutionen im ehemaligen Ostblock und des Falls des Eisernen Vorhangs nicht verwundern, waren die Prozesse doch nicht nur tagespolitisch konstitutiv, sondern wirkten ebenso identitätsstiftend für die unmittelbar beteiligten Staaten Mittelosteuropas nach. Somit stand die westeuropäische Perspektive weniger im Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen. Dazu bietet der vorliegende Band, der "die deutsche um die [...] niederländischen Perspektive erweitert" (9), viele interessante Anknüpfungspunkte und erste Befunde, die, und das ist ein Anliegen der Herausgeber, auch Potential für den Geschichtsunterricht versprechen.

Im Sammelband von Stefanie Gerlach, Christian Kuchler und Marc van Berkel spüren die insgesamt 17 Autorinnen und Autoren der Wahrnehmung der deutschen Einheit "auf den zweiten Blick" (7) nach, der Fokus richtet sich dabei auf Eindrücke und zeittypische Bewertungen der deutsch-deutschen Ereignisse im grenznahen niederländischen Gebiet. Die Erweiterung des Blickes auf eine westeuropäische Grenzregion als ergänzende Betrachtung des mittelosteuropäischen und innerdeutschen Erinnerungsdiskurses (9) erscheint forschungsstrategisch sinnvoll und ist mit den einzelnen Beiträgen des Bandes, die sich mit unterschiedlichen Formen von Geschichtsaneignungen beschäftigen, gut abgestimmt und in Gänze gelungen.

Insbesondere die Auswertung der gewählten geschichtskulturellen Medien ermöglicht eine aussagefähige Darstellung und ein Nachvollziehen der damaligen transnationalen Wahrnehmung der deutschen Einheit. So können anhand von Printmedien und Periodika die Entwicklungen des Diskurses nachvollzogen und in ihrer Vielstimmigkeit rekonstruiert werden - ein Reservoir vor allem für an Multiperspektivität orientierte Unterrichtspraxis. Es befassen sich daher mehrere Beiträge mit Tageszeitungen als historischer Quelle, wofür zu Beginn Marloes Hülsken ein hilfreiches Analyseset vorschlägt, das erste Anregungen für schulischen Unterricht bietet. Das Augenmerk auf der zeittypischen Wahrnehmung heben Annabelle Jansink, Wim van Meurs und Stefanie Gerlach hervor, denn die vielfältig zum Ausdruck gebrachten Stimmungsbilder verschiedener Zeitgenossen - also nicht nur der (Berufs-)Politiker - böten jungen Menschen eine Möglichkeit, sich in die Zeit zu versetzen. Denn "Erzählungen und Meinungen" eigneten sich hierfür besonders gut, da sie "direkt authentisch erscheinen und nicht durch spätere Einsichten oder Anpassungen als eine kanonisch verstandene Sichtweise auf die Vergangenheit gefiltert sind" (22). Da die "Vergangenheit durch die Dynamik der Erinnerungen doch letztlich unvollendet" bleibt (23), sind die Betrachtungen der transnationalen Interpretationen der Erinnerungen an die deutsche Einheit weitreichend und reichen bis in die Gegenwart.

In mehreren Beiträgen werden geschichts- und medienkulturelle Wahrnehmungsmuster zur deutschen Einheit untersucht, beispielsweise von Alexander van der Meer, der einen deutlichen Unterschied in der Berichterstattung der verschiedenen Zeitungen in den Grenzregionen im Norden und Süden der Niederlande herausarbeitet, oder von Yonec Bremmers mit seiner Studie über "Mitläufer" der DDR-Diktatur in TV-Dokumentationen des niederländischen Fernsehens, schließlich auch von Hannah Jacobi, die in ihrem Beitrag lebensgeschichtliche Zeitzeugenberichte aufführt. Zusammengenommen vermitteln die Analysen ein vielschichtiges Bild der niederländischen Perspektive auf die Ereignisse von 1989/90.

Insgesamt zeichnet sich ein sozial fragmentiertes, parteipolitisch differenziertes und eher ambivalentes Bild der damaligen niederländisch-grenznahen Wahrnehmung, vor allem in Bezug auf den Mauerfall als fast irreal-überraschendes Ereignis innerhalb sich nur zögerlich abzeichnender, noch in weiter Ferne scheinender Veränderungen, aber auch mit Blick auf die Wiedervereinigung Deutschlands und ihrer Auswirkungen auf die Niederlande.

Die anfängliche Skepsis resultierte aus den Bedenken ob der ungewissen Zukunft und der Frage, wie sich ein vergrößertes Deutschland außen- als auch wirtschaftspolitisch verhalten würde. Letzteres bereitete Sorge vor einer "von Deutschland dominierten Europäischen Gemeinschaft" (106), wie Luc Bulten in seiner breit angelegten Analyse von Meinungsäußerungen und redaktionellen Kommentaren herausgearbeitet hat. Neben anderen (west-)europäischen Staaten hatten auch die Niederlande anfangs überwiegend Sorge vor einem neuen "Großdeutschland". Die auflagenstärkste Tageszeitung "Telegraaf" sprach gar von einer "Schreckensvision", was auch daher resultierte, dass einige "Niederländer Deutschland im Jahr 1989 noch oftmals vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen betrachteten" (175), wie Teuntje Stoopen zum damaligen Selbstbild der Niederlande feststellt. Virulent wurde dies durch zeitgenössische Reportagen über Rechtsradikalismus in Deutschland und die vor der Einheit kurzzeitig aufgeworfene Frage zur Wiederherstellung der Grenzen von 1937. Letztlich deutete sich, wenn auch nur punktuell, ein positives Signal an, denn das vereinte Deutschland könne "ein Vorbild für die jungen Demokratien in Osteuropa sein", so ein seinerzeitiger Kommentar in "Volkskrant" (Stoopen, 176).

Die anfänglich eher kritische Sicht der niederländischen Printmedien auf die Wiedervereinigung veränderte sich allmählich mit dem fortschreitenden Entwicklungsprozess der deutschen Einheit, der unveränderbar erschien. So wuchs die Hoffnung auf eine "Demokratisierung Osteuropas" und einen weiteren Ausbau der europäischen Zusammenarbeit im nachbarschaftlichen Verhältnis. Hervorgehoben wurden zuweilen "die positiven Aspekte der Friedlichen Revolution in der DDR" im Vergleich zu den "gewaltsamen Umstürzen in anderen osteuropäischen Staaten" (Bulten, 105). Vielleicht war der mediale Fokus auf Einigung im europäischen Sinne gerichtet, wie sie vor allem für die niederländische Presse mit dem 1992 in Maastricht unterzeichneten Vertrag im Zentrum stand.

Eine eher mentalitätsgeschichtliche Perspektive bietet Angelina Pils mit ihrem Beitrag über die Lokalberichterstattung zu sogenannten Übersiedlern und Asylbewerbern in Aachen im Jahr 1989. Aus der Analyse der journalistischen Berichterstattung konstatiert sie eine Hierarchisierung, denn die sogenannten "DDR-Überläufer" in die Bundesrepublik wurden quasi als "'Flüchtlinge erster Klasse' stilisiert, ihre Fluchtmotive verklärt und gegen andere Asylbewerber ausgespielt" (Pils, 146). Dass die Menschen aus der DDR als "Überläufer" betrachtet wurden, erschien politisch opportun, denn sie hätten erkannt, in welchem deutschen Staat es sich besser lebe.

Dass die Kontroversität des Themas der inneren (damit mentalen) deutschen Einheit ebenso wie seine historischen Bezugspunkte, wie die Verortung der DDR als politisches System, im Geschichtsunterricht im Hinblick auf eine mögliche Verklärung und (N-)Ostalgie besonders relevant zu sein scheint, aber noch Unzulänglichkeiten in der didaktischen Umsetzung bestehen, verdeutlicht Kirsten Wolters Schulbuchanalyse ausgewählter Lehrwerke zur DDR-Geschichte für die deutsche Sekundarstufe. Hierzu gehört die Sensibilisierung für bestimmte Quellengattungen wie Karikaturen, die Lukas Greven in seinem unterrichtsmethodischen Beitrag zum Thema der inneren deutschen Einheit anschaulich präsentiert. Drei Beiträge von Stella Hesp, Niek van der Heide und Hannah Stevens am Ende bieten ebenfalls konkrete Unterrichtsentwürfe mit einer Auswahl an bereitgestellten Quellen sowie Arbeitsaufträgen und kommentieren den erwünschten Leistungs- und Kompetenzfortschritt für Schülerinnen und Schüler. Dabei fällt auf, dass sich bestimmte Quellengattungen wie Zeitungsartikel oder Karikaturen durch ihr periodisches Erscheinen und ihre Diskursivität besonders eignen, problemorientierte und kontroverse Zugänge für die Unterrichtspraxis aufzuzeigen. Der multiperspektivische Blick auf die komplexen Geschehnisse von 1989/90 vermag ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein zu befördern und kann eine differenzierte Urteilsbildung initiieren, die angesichts der Vielstimmigkeit des Erinnerns und Deutens zeithistorischer Geschichte im schulischen Kontext nach wie vor von enormer Bedeutung ist.

Die deutsch-niederländische Grenzregion als Untersuchungsraum zeigt neue Perspektiven auf. Zugleich eröffnet sich damit ein weiteres Untersuchungsfeld mit Blick auf andere (westeuropäische) Staaten, insbesondere Belgien mit seiner 'geteilten' Geschichte (flämisch-wallonischer Konflikt). Weitere Studien in diesem Kontext dürften also vielversprechend sein und möglicherweise als Referenzfolie für Debatten um die sogenannte innere Einheit eines Landes oder Europas dienen.

Der Band überzeugt neben den fachwissenschaftlichen Befunden zur transnationalen Geschichtskultur in der deutsch-niederländischen Grenzregion durch unterrichtspraktische Anregungen und methodische Hinweise für den Sozialkunde- und Geschichtsunterricht. Die Beiträge lesen sich kompakt, bieten vielerlei Anregungen für den Fachunterricht und laden zur fruchtbaren Perspektivübernahme des vermeintlich ausschließlich deutsch-deutschen Themas ein.

Frank Britsche