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Almuth Ebke: Britishness. Die Debatte über nationale Identität in Großbritannien, 1967 bis 2008 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 55), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, X + 371 S., ISBN 978-3-11-062405-2, EUR 64,95
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Gerhard Altmann
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Gerhard Altmann: Rezension von: Almuth Ebke: Britishness. Die Debatte über nationale Identität in Großbritannien, 1967 bis 2008, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 11 [15.11.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/11/34338.html


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Almuth Ebke: Britishness

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Premierminister David Cameron wiegte sich und seine Mitstreiter in Sicherheit: Wie beim Referendum über die schottische Unabhängigkeit 2014 würden die Bürgerinnen und Bürger auch bei der Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs letztlich dem Status quo zuneigen. Das "Project Fear" [1] entpuppte sich jedoch als fahrlässiges Wunschdenken. Dass sich die Wähler in einem Ausscheidungskampf zwischen den Themen Migration und Ökonomie aus Furcht vor einem Sprung ins Dunkle auf die Seite wirtschaftlicher Gewissheiten schlagen würden, war für das Remain-Lager eine ausgemachte Sache. Es unterschätzte dabei freilich die Virulenz populistischer Strategien, die den Schlachtruf der Brexiteers - take back control - aus den ätherischen Höhen des Souveränitätsdiskurses in die Niederungen der Kontroversen über die Einwanderungspolitik holte. Almuth Ebke zeichnet in ihrer sorgfältig arrangierten Studie politische und wissenschaftliche Debatten über nationale Identität im Zeitalter der Dekolonisation nach, die nicht zuletzt der "mentale[n] Verarbeitung" (9) tiefgreifender Wandlungsprozesse dienten und bis heute nicht abgeschlossen sind.

Ebkes vielschichtige Untersuchung kreist um eine Problematik, die sich auf das Bonmot zuspitzen lässt, demzufolge Großbritannien ein Empire besaß, aber keines war. Mithilfe dieser Denkungsart konnte zwar der Abschied vom Imperium schonend flankiert werden, was dem Vereinigten Königreich Verwerfungen ersparte, wie sie etwa die Auflösung der multinationalen Reiche nach dem Ersten Weltkrieg hervorrief. Allerdings lief - wie Ebke anhand der Unruhen von Brixton 1981 zu veranschaulichen vermag - die britische Selbstvergewisserung ins Leere, wenn sie mit der Realität der Immigration kollidierte. Die Ausschreitungen im Süden Londons wurden wahlweise als Reaktion auf rassistische Stereotype, den Verfall der Innenstädte oder das Verhalten der Polizei interpretiert. Die im gleichen Jahr verabschiedete Reform des Einwanderungsrechts musste daher als Korrektur von "als Anomalien betrachteten imperialen Überresten" (30) gelten.

Britische Debatten über Zugehörigkeit, die weit über Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts hinausreichten, kreisten im Wesentlichen um drei Interpretamente. Konservative Kommentatoren kaprizierten sich auf die Einhaltung überkommener Normen als Lackmustest für die erfolgreiche Integration und stilisierten die Polizei zur letzten Bastion gegen eine grassierende, vor allem von Einwanderern verkörperte soziale Devianz. Linke Beobachter stellten indes die Bedeutung von Arbeit für die Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft heraus und beklagten Arbeitslosigkeit als Hauptgrund für die integrationshemmende Erfahrung der Deprivation. Jene, die auf Zugehörigkeit durch Kultur abhoben, erklärten die Entfremdung zahlreicher Migranten von der britischen Gesellschaft damit, dass diese mit Schikanen konfrontiert würden, die oft auf der Annahme eines essentiellen kulturellen Unterschieds zwischen Zuwanderern und Einheimischen basierten.

Die Debatten über eine Verschärfung des Einwanderungsrechts fluktuierten seit den 1950er Jahren zwischen den "Polen des imperialen Territorialitätsprinzips und ethnisch begründeter Nationsvorstellungen" (74). Schon 1968 wurde das bis dato geltende ius soli durch Elemente des ius sanguinis eingeschränkt. Und hätte 1981 nicht das Außenamt zugunsten des kolonialen Restbestands in Gibraltar und Hongkong interveniert, hätte das Innenministerium den "imperialen Ballast" (90) ohne viel Federlesens abgeschüttelt.

Tom Nairns oft zitierter Buchtitel "The Break-Up of Britain" [2] bildet den Angelpunkt einer weiteren Analyseachse Ebkes. Die ungeschriebene Verfassung des Vereinigten Königreichs geriet infolge des Aufstiegs nationalistischer Bewegungen seit den 1960er Jahren zusehends unter Druck. Die Scottish National Party appellierte über Klassengrenzen hinweg an ein kaledonisches Nationalgefühl, was die seinerzeit nördlich des Hadrianwalls erfolgreiche Labour Party beunruhigte, jedoch eher als kurzfristiges Phänomen angesehen wurde, das vermittels einer Royal Commission auf die lange Bank geschoben werden sollte. Auch in Wales machte sich im Schatten der politisch wie historiographisch bedeutsamen Decline-Kontroversen die "regionale[...] Umverteilung wirtschaftlicher Leistungskraft" (129) an den Wahlurnen bemerkbar. Doch die Debatten über eine Devolution ebbten spätestens mit den gescheiterten Referenden 1979 ab, zumal der unmittelbar damit zusammenhängende Sturz der Regierung Callaghan die Ära Thatcher einläutete, in der den Begriff Föderalismus nicht nur europapolitisch der Hautgout unbritischer Umtriebe umwehte. Zu Recht betont Ebke die Bedeutung der - bis in die Brexit-Verhandlungen hinein komplexen - irischen Frage als steinerner Gast bei allen Kontroversen um die Zukunft der multiple kingdoms.

Mit den Cultural Studies als "transatlantische[...] Exportschlager" (167) wandten sich auch die Sozialwissenschaften seit den 1980er Jahren verstärkt Fragen der Identität zu, die sich mit unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen von Einwanderern befassen. Neben class diente nun race als ebenbürtige Kategorie zur Analyse gesellschaftlicher Ungleichheiten. Das Ende des Empire erklärt Tom Nairn zufolge die schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen, da das Imperium stark durch schottische Eliten geprägt worden sei. Mit der Dekolonisation entfiel damit für viele der Daseinsgrund der Union von 1707. Eric Hobsbawm lieferte mit den invented traditions einen weithin rezipierten Ansatz zur Deutung nationalistischer Bestrebungen.

Wie ein Gewitter aus heiterem Himmel platzte der Falklandkrieg 1982 in diese pluralen wissenschaftlichen Debatten. Als "machtvolles Gegennarrativ" (218) zum cantus firmus des Niedergangs verlieh der Sieg der britischen Flotte im Südatlantik dem Thatcherismus mächtig Auftrieb. In einer berühmten Rede in Cheltenham Anfang Juli 1982 unterstrich die streitbare Premierministerin die über den Tag hinausgehende Bedeutung der Schlacht um die Falklandinseln: Großbritannien sei nicht länger eine Nation auf dem Rückzug, die Zeit des Selbstzweifels sei vorüber, und trotz der Unterstützung durch die Verbündeten in den Vereinigten Staaten und in Europa habe das Land auch allein gekämpft [3]. Dieser implizite Bezug auf den Mythos des standing alone nach dem Fall Frankreichs 1940 ist eine wirkmächtige Komponente einer Art britischer Sonderwegsthese. David Cameron wusste daher, weshalb er vor dem Brexit-Referendum mahnend darauf hinwies, dass Großbritannien damals nicht freiwillig allein war und Winston Churchill aus diesem Grunde nach dem Krieg für die europäische Integration warb. Was Cameron seinerseits - anders als die Brexit-Befürworter - verschwieg, ist Churchills sybillinisches Wort, das Vereinigte Königreich sei "with Europe, but not of it". Genau diese Ambivalenz prägte die gesamte EU-Mitgliedschaft der Inselnation. Kein Wunder auch, dass die Linke die heritage-Renaissance in den 1980er Jahren argwöhnisch als "konservativen Spielball" (222) betrachtete.

Die Labour-Partei unter Premierminister Tony Blair versuchte den Spagat, indem sie das Erbe Thatchers so weit bewahrte, wie es ihr den Zuspruch der Mittelschicht eintrug. Gleichzeitig verschärften sich euroskeptische Haltungen als genuin englische Perspektive. Blairs glückloser Nachfolger Gordon Brown zielte darauf ab, eine inklusive britische Identität zu propagieren, die Solidarität und Loyalität zur "Grenzmarke von sozialer Zugehörigkeit" (292) erhob. Die Debatte über Britishness kam jedoch nicht vom Fleck, obwohl sie eine tiefe politische Verunsicherung angesichts der als Bedrohung wahrgenommenen Migration aus Osteuropa und des transnationalen Terrorismus widerspiegelte. Eine trennscharfe Definition nationaler Zugehörigkeit, so Ebkes Fazit, konnte nicht formuliert werden. Die Stunde der radikalen Vereinfacher hatte geschlagen.

Im Handbuch "Life in the United Kingdom", dessen Inhalt dem britischen Einbürgerungstest zugrunde liegt, ist von, "for the most part, an orderly transition from Empire to Commonwealth" [4] die Rede. Das von Ebke untersuchte social imaginary nationaler Identität findet in dieser Formulierung treffend Ausdruck. Selbst wenn man von den Nachwirkungen missglückter oder überhasteter Dekolonisationsprozesse wie in Palästina oder Kaschmir absieht und Großbritannien eine in vergleichender Perspektive insgesamt humane Abwicklung seines Imperiums attestiert, gelingt Ebke doch der Nachweis, dass die innere Dekolonisation, wiewohl auf der Oberfläche recht geräuschlos, loose ends hinterlassen hat, die von den Brexiteers 2016 erfolgreich verknüpft wurden.


Anmerkungen:

[1] Robert Saunders: Yes to Europe! The 1975 Referendum and Seventies Britain, Cambridge 2018[TG1], 379. Vgl. die Rezension in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 6

[2] Tom Nairn: The Break-Up of Britain. Crisis and Neo-Nationalism, London 1977.

[3] Für Thatchers Rede vom 3. Juli 1982 vgl. https://www.margaretthatcher.org/document/104989 (letzter Aufruf 20.10.2020).

[4] https://lifeintheuktests.co.uk/study-guide/?chapter=3§ion=4/#start10 (letzter Aufruf 20.10.2020).

Gerhard Altmann