Wolfgang Ruppert: Künstler! Kreativität zwischen Mythos, Habitus und Profession, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 419 S., ISBN 978-3-412-50976-7, EUR 38,00
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"Künstler!" ist in roten Großbuchstaben und mit einem markanten Ausrufezeichen auf den Titel gedruckt. Darunter erscheinen in Blau- und Grüntönen farbig überlagert zwei ikonische Fotos von Valie Export und Joseph Beuys. Und mit einer kühnen These leitet der erste Satz des Buches das Thema ein: "Unter allen Berufen genießt der Beruf des Künstlers das größte Prestige." In seiner Absolutheit fordert das zum anfänglichen Widerspruch geradezu heraus, denn auch im 21. Jahrhundert dürften zumindest in Teilen der bürgerlichen Gesellschaft Berufe wie Arzt, Richter oder Professor immer noch ein höheres Prestige haben. Aber indem Wolfgang Ruppert das Bild des Künstlers weit fasst und neben den Vertretern der bildenden Künste auch Literaten, Musiker, Komponisten, Choreographen, Schauspieler und Filmemacher, Architekten und Designer in seine Betrachtung einbezieht, kann man sein provokantes Urteil nachvollziehen.
Und mit einem ehemals provokanten Künstler steigt der Autor dann auch gleich in das Thema ein - dem Russen Wassily Kandinsky, der in München zum Pionier der Abstraktion wurde (9, 44-51). Das einander befruchtende Zusammenspiel zwischen theoretischen Überlegungen und biografischen Fallbeispielen durchzieht das gesamte Buch, indem den acht Kapiteln zu bestimmten Themenbereichen am Ende jedes Kapitels jeweils eine Fallstudie zugeordnet ist. In seinem einleitenden Hinweis an den Leser erläutert der Verfasser, dass Fallstudien und strukturelle Fragen "zwei einander ergänzende Einstiege in die Lektüre bilden." Diese methodische Vorgehensweise lockert die Lektüre auf - ebenso wie die klug angeordneten und zum Teil mit längeren erläuternden Texten versehenen Abbildungen. Die Verwendung von schwarzweiß gehaltenen Textabbildungen und zwei Blöcken mit Farbabbildungen wirkt dabei fast wie ein gewollter Anachronismus. Der wissenschaftliche Apparat des im Böhlau Verlages erschienenen Bandes besteht neben den Endnoten aus einer Auswahlbibliografie, Abbildungsnachweisen und einem Personenregister.
Der erste Theoretiker, den der Autor zitiert, ist nicht zufällig der französische Semiotiker Roland Barthes (16). Semantik und Semiotik sind Rupperts bevorzugtes theoretisches Rüstzeug. Mythische Vorstellungen und Narrative erkennt er als wesentliche Bestandteile des Künstlerkultes bis in die zeitgenössische Moderne. Schon ein Blick auf die als Exempla ausgesuchten Künstler zeigt das breite Spektrum der abgedeckten künstlerischen Medien, aber auch die Konzentration auf die deutsche Kunstszene: Kandinsky und Klee, die "Bauhäusler", Leni Riefenstahl, Joseph Beuys, Otl Aicher, Martin Kippenberger, Schlingensief und Meese, Pina Bausch.
Eine zentrale Frage des Buches ist die nach den Ursachen und Kriterien, die insbesondere im 20. Jahrhundert darüber entschieden, welche Anerkennung ein Künstler finden konnte. Als ein zentrales Kriterium erkennt Ruppert die Idee des Künstlers als schöpferisches Individuum - das Stichwort lautet Kreativität! Wie es schon im Untertitel des Buches anklingt: "Kreativität zwischen Mythos, Habitus und Profession". Kreativität schließt dabei Begrifflichkeiten wie "Genie" bis hin zum "Wahn" ein. Als Provokateur, Tabubrecher, Avangardist nimmt der Künstler eine Sonderrolle durch die Absetzung von der "normalen Gesellschaft" ein. Der Autor zeigt auf, wie solche mythischen Zuschreibungen in Selbstzeugnissen, biografischen Erzählungen, feuilletonistischer und wissenschaftlicher Kunstkritik sowie in Medien und Marketing des Kunstbetriebes und Kunstmarktes erzeugt und tradiert werden. Für die historische Entwicklung des Konzeptes vom modernen Künstler kann er auf seine erstmals 1998 erschienene Monografie "Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert" aufbauen. In diesem Sinne ist "Künstler!" eine konsequente Fortsetzung von Rupperts inzwischen 2017 in dritter Auflage erschienenem Standardwerk. Als wesentlich für die Entstehung des Berufsbildes und die Figur des modernen Künstlers erweist sich die gesellschaftliche Umstrukturierung im Europa des 19. Jahrhunderts, die zu bürgerlichen Strukturen in Kunstbetrieb und Kunstmarkt führten und durch ein Einkommen aus künstlerischer Arbeit ohne Auftrag eine Absetzung von handwerklicher Arbeit ermöglichten - wobei der Rezensent anmerken möchte, dass Auftragsarbeiten bis in die Gegenwart ein wichtiges Standbein für viele Künstler geblieben sind, in Bereichen wie Film oder Theater auch weiterhin fest verankert in den Strukturen dieser Kunstbetriebe.
Im Unterkapitel des dritten Kapitels "Die Macht des 'Zeitgeistes'" zu Leni Riefenstahl zeigt sich die fundierte Sachkenntnis des Verfassers wie auch seine Fähigkeit zu präziser Beschreibung und Analyse (123-162). Auf zwölf Seiten gelingt es, den Werdegang und das Werk der Künstlerin von den Anfängen bis zum Spätwerk zusammenzufassen. Wie nebenbei beschreibt Ruppert bereits im Untertitel "Als 'Nazikünstlerin' zwischen experimenteller Moderne und Propaganda" als ein wesentliches Phänomen der Kunst im Nationalsozialismus die Verwendung sogenannter avantgardistischer Techniken für die Zwecke des Nationalsozialismus. Hier ist wesentlich auch der Expressionismus zu nennen, dessen mythisches Weltbild prägend für einen Teil der Jugend in der Weimarer Republik war und auf diese Weise wiederum einen Teil dieser Jugend für das mythische Weltbild des Nationalsozialismus empfänglich machte. In den Erfolgsfilmen von Leni Riefenstahl wird die Verbindung von avantgardistischen Techniken und Stilmitteln mit völkischen Themen durchgehend anschaulich. In der bildenden Kunst setzte sich nach einigen Jahren des innerparteilichen Ringens ab 1937/38 zumindest stilistisch eher der an der "Neuen Sachlichkeit" der Zwanziger Jahre orientierte Akademismus gegen den Expressionismus durch. Am Beispiel Riefenstahls beschreibt Ruppert sachkundig auch die politischen und kulturpolitischen Entwicklungen im NS-Staat und analysiert gleich auch noch die Strategien künstlerischer Karrieren im NS-System sowie die Formen des Umgangs damit in der Nachkriegszeit. Mit Recht betont er "den Doppelcharakter des Nationalsozialismus von einerseits avancierter technischer Modernität und andererseits angeblich 'ursprünglicher' Kultur des Volkes" (156). Man vergleiche dazu auch den Abschnitt über die "'Bauhäusler' im Nationalsozialismus" (120-122).
Das zentrale vierte Kapitel befasst sich mit der "Formung des Künstlerhabitus". Vom jungen Goethe als "Dichterkünstler" über Caspar David Friedrich und Richard Wagner wird der Bogen über die "Avantgarden" des 20. Jahrhunderts geschlagen bis zu Joseph Beuys, der zentralen Gestalt dieses Abschnitts. Ihm ist auch die Fallstudie "Joseph Beuys: Arbeit an der 'sozialen Plastik'" gewidmet, die kenntnisreich in Biografie und Werk einführt und Beuys als Prototyp der mythisch aufgeladenen Künstlergestalt vorführt (204-227).
Das fünfte Kapitel über "Künstlerische Profession und die Erfindung der technischen Medien" (228-269) überzeugt, indem der Verfasser im Rückblick auf das sogenannte lange 19. Jahrhundert die Entwicklung des stilistischen Akademismus zu einem Geschäftsmodell skizziert und dann als Gegenmodell die Hinwendung zur Abstraktion beschreibt, wobei er eine Korrelation zur "zunehmenden Bedeutung der abstrakten Tendenzen in der technischen Zivilisation des 20. Jahrhunderts" erkennt (229). Gerne hätte man noch mehr über diese abstrakten Tendenzen erfahren, aber im Folgenden liegt der Schwerpunkt vor allem auf den "neuen technikbasierten künstlerischen Arbeitsformen" (230-257). Das Spektrum, das hier abgedeckt wird, ist beeindruckend: es reicht von der Glaskunst über Fotografie und Film bis zu Video und Klangkunst, von Installationskunst über Design und Werbung bis zur Internetkunst. Immer werden auch wichtige Akteure eingeführt oder zumindest genannt. So begegnet die schon vom Cover bekannte Valie Export im Rahmen der ab den späten 1960er Jahren entwickelten neuen Bildsprache der Videokunst (245-246). In diesem breitgesteckten Rahmen werden Themen angeschnitten wie die Entstehung von öffentlich-rechtlichen Medien in Westdeutschland nach 1945 und die Entstehung einer privaten Medienkultur in den 80er Jahren (242-243). Als Überblick ist das nützlich und teilweise überaus originell, etwa wenn nebenbei die Beobachtung eingestreut wird, wie der ursprünglich weibliche Beruf der Filmcutterin aufgrund der zunehmenden Digitalisierung inzwischen zunehmend auch von Männern ausgeübt wird (244). Doch muss ein so enzyklopädischer Ansatz schon aus Platzgründen in manchen Passagen etwas oberflächlich bleiben und so werden etwa im Bereich der Fotokunst Tendenzen und Entwicklungen nur angerissen. Konkreter und spannend zu lesen wird es dann in dem dazugehörenden Abschnitt über den Gestalter Otl Aicher und die von ihm und seiner Frau Inge Scholl geprägte Ulmer Hochschule für Gestaltung (258-269). Eine Stärke des Buches wird hier wie an zahlreichen anderen Stellen deutlich, nämlich die fundierten historischen Einblicke in die Entwicklungen an den deutschen Kunstakademien und Kunsthochschulen - ein Spezialgebiet des seit Jahrzehnten als Professor an der Universität der Künste Berlin lehrenden Verfassers, der zu diesem Themenfeld auch schon zahlreiche wichtige Tagungen veranstaltet und Publikationen vorgelegt hat.
In den drei abschließenden Kapiteln wird das Bild über die Moderne und Postmoderne bis in die Gegenwart weitergeführt, Martin Kippenberger, Christoph Schlingensief, Jonathan Meese und Pina Bausch sind die exemplarisch herausgehobenen Gestalten, die den Künstlerhabitus wie im Fall Schlingensief bis zum "Egostar" des Kunstbetriebs oder im Fall Meese bis zu einem "radikalen Totalitarismus des Auftritts" steigern (343-353).
Ein zentraler und ebenfalls in verschiedenen Zusammenhängen des Buches diskutierter Punkt ist das Verhältnis von Kunst und Religion - hier insbesondere der von Ruppert herausgearbeitete Prozess, in dem die Kunst in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft durch eine inszenierte Weihe zu einer Ersatzreligion wird und der Künstler einen "Kultstatus" als "Schöpfer" erlangt.
Harald Schulze