Ariane Lorke: Kommunikation über Kirchenreform im 11. Jahrhundert (1030-1064). Themen, Personen, Strukturen (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 55), Ostfildern: Thorbecke 2019, 508 S., eine CD-ROM, ISBN 978-3-7995-4375-0, EUR 64,00
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Das vorliegende Buch ist die aktualisierte Version einer im Jahre 2015 von Stephan Freund betreuten Magdeburger Dissertation. Der Fokus liegt dabei weniger auf der Kirchenreform an sich, sondern eher auf der Kommunikation zwischen 'Reformern' in der frühen Salierzeit, wobei es überrascht, dass die Autorin Ariane Lorke einen Zeitraum von 1030 bis 1064 wählt. Dies ist dahingehend erstaunlich, da sich der Untersuchungszeitraum nur ungenau mit dem Wirkungszeitraum der beiden 'Protagonisten' der Studie abdeckt: Heinrich III. übernahm die königliche Alleinherrschaft erst 1039, Petrus Damiani starb 1072. Eine Begründung für die Auswahl der zeitlichen Abgrenzung der Studie fehlt. Zustimmen muss man Lorke, dass die "Träger dieser Gedanken [...] individuell handelnde Personen oder Vertreter verschiedener, vor allem innerhalb des Reiches beheimateter Gruppen mit divergierenden Interessenslage" (16) waren. Anhand mehrerer Fragen möchte die Autorin ihr Forschungsziel, das Kommunikationsverhalten der Kirchenreformer, definieren, wie zum Beispiel: "Mit wem kommunizierten sie wann und auf welche Weise über reformrelevante Themen? Wie entstanden und entwickelten sich Reformkontakte? Welche Rolle spielten einzelne Personen, Gruppen, Vermittler, Institutionen oder räumliche Aspekte?" (17). Insbesondere anhand der Netzwerkanalyse (NWA) möchte Lorke den unterschiedlichen Beziehungsgeflechten auf den Grund gehen, wobei sie sich in ihrer Einleitung (I) durchaus bewusst ist, dass ob der überschaubaren Quellenbasis und den Datierungsproblemen immer wieder Probleme in der Analyse auftreten können. Reichen diese Überlegungen jedoch aus? Zumindest bei Personen, die nicht gerade als Kaiser bzw. König, Papst und Bischof handeln, beschleichen den Rezensenten ein wenig Zweifel. Das Großthema 'Kirchenreform des 11. Jahrhunderts' wurde zwar bisher schon ergiebig behandelt [1], aber weder im Zusammenhang mit Kommunikationsformen noch der Netzwerkanalyse. Insofern ist der Ansatz vielversprechend.
Auf die Einleitung folgt ein breit angelegtes Kapitel (II) über Charakteristika der Kirchenreform (39-181), in dem zunächst der Reformbegriff diskutiert wird (39-45), gefolgt von acht Themenfeldern, die zumeist mit der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden, wie Simonie, Nikolaitismus oder Laieneinfluss (45-105). Zuletzt stehen die Reformvorhaben der Personen und Gruppen, wie beispielsweise die Eremiten, Mönche, Kaiser und Könige (105-177), im Fokus. Grundsätzlich stellt sich nach dem Lesen dieses äußerst fleißig zusammengestellten Kapitels die Frage, ob es tatsächlich notwendig und sinnvoll ist, einen über 150 Seiten langen 'Vorbau' der eigentlichen Analyse voranzustellen. Denn dass die verschiedenen Themen der Kirchenreform in den unterschiedlichen Kreisen in mehreren Kombinationen vorkamen, überrascht wenig (178). Eine kürzere Abhandlung mit deutlich mehr Fallbeispielen, wie im nächsten Kapitel (III), dem Kernstück der Arbeit, wäre deshalb sinnvoll gewesen.
Hierin (183-295) beleuchtet Lorke die Kommunikation über Kirchenreform zur Zeit Kaiser Heinrichs III.: Insgesamt seien mehr als "875 Personen aktiv oder passiv in über 2146 Kommunikationsakten beteiligt" (186) gewesen, wobei die 'Dunkelziffer' sicherlich höher einzuschätzen ist. An dieser Stelle werden Petrus Damiani und Heinrich III. als nicht unbedingt repräsentative Fallbeispiele gewählt, deren Auswahl sich aus der etwas reichhaltigeren Quellenlage erklärt. Kritisch sei angemerkt, dass einige Arbeiten Nicolangelo D'Acuntos keine Erwähnung finden. [2] Gemäß Lorke versuchte Damiani "möglichst breite Bevölkerungskreise von der Notwendigkeit [der Reform, T.B.] zu überzeugen und wandte sich für ihre Umsetzung an einflussreiche Multiplikatoren" (217), womit sie die "klerikalen und laikalen Kreise" (217) meint. Dagegen ist die 'Ausgangsposition' zur Beurteilung Heinrichs III. deutlich schwieriger, geradezu "stiefmütterlich" (220): Da es an direkten Zeugnissen des salischen Königs fehle, sei sein Reformengagement - im Gegensatz zu Petrus Damiani - nicht klar herauszustellen.
Äußerst gering war der Einfluss der Hofkapelle auf den Reformdiskurs, gerade einmal 29 Mitglieder der Hofkapellen der ersten beiden salischen Herrscher und der Regentin Agnes konnte die Autorin quantitativ belegen. Bei den Kardinälen sei ebenso eine Vernetzungsbemühung nicht festzustellen. Durch die Begrifflichkeiten Aktionsgemeinschaften, -kreise, -cluster und -netzwerke versucht Lorke, die komplexen Kategorien der Kontakte zu strukturieren. Aus Sicht des Rezensenten neigen solche Begrifflichkeiten aber eher dazu weiter zu verwirren, wodurch die ohnehin komplexen Verästelungen noch weiter theoretisiert werden, sodass diese am Ende kaum noch zu überblicken sind. Sind eine solche Verallgemeinerung und Kategorisierung überhaupt sinnvoll und wünschenswert?
Abschließend werden strukturelle Aspekte (264-295) in den Blick genommen. Lorke thematisiert unter anderem die Kommunikationsmittel, vom "Zwei-Augen-Gespräch bis zu über 100 Personen besuchenden Synoden" (264). Sie betont mit guten Gründen die "Verzahnung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie eine zunehmende Einbindung der Verschriftlichung" (274).
Präzise fasst die Autorin ihre Erkenntnisse im Resümee (IV) zusammen (297-305). Die höchsten Kommunikationsdichten (warum der Plural?) konstatiert sie in den Herzogtümern Nieder- und Oberlothringen, in Franken, im Süden von Burgund und "entlang seiner Grenzen zum Königreich Frankreich sowie in der nördlichen Lombardei, der Grafschaft Tuszien und schließlich im Kirchenstaat inklusive der Pentapolis" (304). Während Heinrich III. eher die Rolle als Katalysator zugebilligt wird, der vor allem durch seine Einflussnahme auf das Papsttum (war das wirklich so?) und als Vermittler auftrat, so war Petrus Damiani ein "begabter Networker und reformerischer Topmanager" (301).
Begrüßenswert ist eine Kurzpräsentation (VI) der wichtigsten Kirchenreformer, die auf dem neuesten Stand der internationalen Forschung skizziert werden. Dies macht den Anhang der Arbeit zu einer wahren Fundgrube und einem Nachschlagewerk, dessen Nutzen der zukünftigen Forschung gewiss hoch sein wird. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis (407-494) runden die Studie ab. Generell muss man Lorke konzedieren, dass sie - bis auf Petrus Damiani - die gesamte internationale Forschung souverän überblickt und einordnet. Ein Personenregister beschließt die Untersuchung, ein Ortsregister fehlt leider. Zusätzlich ist dem Buch eine CD-ROM beigegeben, um dort die Abbildungen und Tabellen nachzuvollziehen. Zwar ist dies aus Kostengründen verständlich, aber zugleich leserunfreundlich, denn zur Nachprüfung muss stets ein Blick auf den Bildschirm geworfen werden. Ein gründlicheres Lektorat hätte der Studie gutgetan, denn es fällt eine höhere Anzahl an Tippfehlern auf (sowohl im Fließtext als auch in den Verzeichnissen).
Ein Fazit zu ziehen ist nicht einfach: Die Untersuchung überzeugt durch viele Detailergebnisse und die ungemeine Fleißarbeit, aber methodisch sind Bedenken vorzubringen, ob die Netzwerkanalyse tatsächlich das geeignete Mittel ist, um Aussagen der Kirchenreform und die beteiligten Personen zu bündeln. Zweifellos werden zahlreiche Untersuchungen auf dieser Arbeit aufbauen und durch die erwähnten Kurzbiogramme wird sie sicherlich zu Rate gezogen werden.
Anmerkungen:
[1] Zuletzt Claudia Zey: Der Investiturstreit (= Beck Wissen; Bd. 2852), München 2017; Jochen Johrendt: Der Investiturstreit (= Geschichte kompakt), Darmstadt 2018; Nicolangelo D'Acunto: La lotta per le investiture. Una rivoluzione medievale (998-1122), Roma 2020.
[2] Es sei an dieser Stelle lediglich auf die Trefferliste des Opacs der Regesta Imperii verwiesen: http://opac.regesta-imperii.de/lang_de/suche.php?qs=Nicolangelo+D%27Acunto+Damiani (zuletzt eingesehen am 23.11.2020). Vgl. hierzu bereits die Rezension von Florian Hartmann bei H-Soz-Kult, 31.07.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28808 (zuletzt eingesehen am 23.11.2020).
Timo Bollen