Domenico Cecere / Chiara De Caprio / Lorenza Gianfrancesco e.a. (eds.): Disaster Narratives in Early Modern Naples. Politics, Communication and Culture (= Viella Historical Research; 10), Roma: Viella 2018, 257 S., ISBN 978-88-6728-645-4, EUR 45,00
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Der vorliegende Sammelband, entstanden im Rahmen eines von Chiara De Caprio an der Universität Federico II in Neapel geleiteten Forschungsprojekts, vereint philologische und historische Beiträge zu Literarizität und Agenzialität von "Disaster Texts" im Süditalien der Frühen Neuzeit. Die insgesamt elf Beiträge untersuchen besonders die Erzählstrukturen jener Naturkatastrophen, die den Großraum von Neapel zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert heimgesucht haben, und widmen sich dabei grundsätzlichen Fragen wie der Wirkmacht der verschriftlichten Symbole, des Verhältnisses von Faktualität und Fiktionalität, der Aneignung, Aufzeichnung und Verbreitung von Wissen, um nur einige Leitlinien zu erwähnen. Was die unterschiedlichen Fallstudien eint, ist eine gemeinsame Frageachse. Betrachtet werden nicht (mehr) die Ereignisse selbst, d.h. die Erdbeben von 1456, 1627, 1638 und 1688 oder der Vesuvausbruch 1631 und die Pestepidemie von 1656, sondern ihre historiografischen Erzählstrategien, narrativen Ordnungsmuster und Katastrophenepisteme. Im Fokus also steht das semiotische Universum der Katastrophe, in dem 'wahr' und 'falsch' allenfalls untergeordnete Kategorien bilden.
Eine implizite Kernthese des Bandes lautet, dass die Katastrophe selbst ein Text ist, weil sie Zeichen produziert oder wie es De Caprio eingangs wendet: "desasters generate texts" (23). Tatsächlich bildet die große Zahl von Chroniken, naturwissenschaftlichen Schriften, Dramen, Verordnungen, Predigten, Gedichten und einigem mehr für sich einen immensen Textkorpus, ja eine Bibliothek des Katastrophenwissens, deren Eigenart es allerdings ist, genauso Wahrheiten wie Mysterien zu bergen. Denn in dem Maße, wie Texte, Symbole und Zeichensysteme das Unglücksgeschehen klassifizierten, ordneten und erklärten, verwiesen sie aufeinander, überlagerten sich oder unterliefen einander, so dass der Wissensschatz keinen einheitlichen Diskurs hervorbrachte. Die Beiträge machen immer wieder deutlich, dass die Unwissenheit gegenüber den Ursachen von Naturphänomenen nicht in einem Rätsel mündete, dessen Lösung man aussetzte, sondern umgekehrt in der Zuweisung von symbolischem Sinn, der zwar nicht beliebig, aber doch variabel genug war, um die Katastrophe dem Spiel divergierender Lektüren zuzuführen.
Lorenza Gianfrancesco erläutert, dass Text als Aufschreibesystem zugleich ein Mittel im Ringen um Deutungshoheiten war und dies nicht zuletzt zwischen kirchlicher und weltlicher Macht. Galt der Vesuvausbruch von 1631 als ein Ausdruck göttlichen Willens ("flagellum Dei"), dann soll Schlimmeres für die Stadt dadurch abgewendet worden sein, dass der Erzbischof von Neapel durch Fürsprache beim Stadtpatron San Gennaro intervenierte, während in einer Chronik mit ganz anderer Stoßrichtung der spanische Vizekönig Monterrey gefeiert wurde, der sich durch kluge Schutzmaßnahmen hervorgetan haben soll. Subversive Pasquinaten taten ihr übriges, die Deutungen zu multiplizieren - und zu verwirren. Indessen setzten seit Ende des 16. Jahrhunderts naturwissenschaftliche und medizinische Abhandlungen einen neuen Vektor ins Feld der Diskurse. Es ist deshalb mehr als ein ironisches Detail, wenn Silvana D'Alessio vermerkt, dass der Arzt Geronimo Gatta die Verschwörungstheorie, nach welcher die spanische Besatzungsmacht 1656 die Pest aus Rache für den Volksaufstand von 1647 über Neapel gebracht habe, mit einem gleichzeitigem Lachen und Weinen kommentierte (200). In dem Maße wiederum, wie sich die empirische Beobachtungskunst literarisch verselbständigte, drang ihre Zeichensprache in die Chronistik ein. Revolten, wie der Masaniello-Aufstand von 1647 als Fieberinfektion und Krebsgeschwür am Volkskörper gedeutet, wurden zur Anamnese Neapels ausbuchstabiert. [1] Der Zeichenhaftigkeit der Zeichen entspricht, dass sie nicht wörtlich, sondern politisch zu lesen sind.
Die dichte Lektüre des Bandes suggeriert, dass die (Natur)Zeichen selbst fieberhaft ihre Signifikate wechselten. Der Ausbruch des Vesuvs war Prodigium für das chiliastische Ende der Welt, aber auch der spanischen Herrschaft über Süditalien. Für Letzteres stand wiederum wenige Jahre später der Rebellenführer Masaniello ein, dessen sich andeutender Wahnsinn und schließlich eigenes Ende durch eine Rauchfahne des Vesuvs angezeigt worden sein soll. Bewirkten die Katastrophen eine erhöhte Zirkulation und Polysemie der Zeichen, dann galt zugleich, und das adressiert der Beitrag von Giancarlo Alfano, dass ihre Gewalt die semiotischen Koordinaten insgesamt zu verschieben vermochte, so seit 1631 als die Stadtveduten Neapels eine Achsendrehung gen Süden vollzogen und der Vesuv - sei es als Menetekel, sei es als sublimes Naturphänomen - fortan der Stadtphysiognomie eingraviert wurde. [2]
Wer wie im vorliegenden Band die Strukturen des Symbolischen primär vom Textmedium her rekonstruiert und Sprache zum privilegierten Medium der historischen Erkenntnis erklärt, nimmt freilich blinde Flecken in Kauf. Wie Dietrich Erben und Katharina Siebenmorgen indes mit ihren Studien zur Masaniello-Revolte aufgezeigt haben, schrieben sich die Narrative und Metaphern der Chroniken überaus produktiv in die bildliche und materielle Zeichenwelt fort. [3] Gewiss generieren sich Texte aus Texten, aber genauso aus Bildern und umgekehrt, so dass wir es mit einem verwickelten Gewebe zu tun bekommen, das Ereignisse, Deutungen und Zeichen zu einem einzigen 'Text' verknüpft, dem im Gegenzug ein Pluralismus der Medien entspricht. So wie die Chroniken die Ausnahmeereignisse des 17. Jahrhunderts immer wieder aufeinander bezogen, worauf Domenico Cecere eingeht, hatte sie auch Domenico Gargiulo in seiner bekannten Gemäldetrias von Vesuveruption, Masaniello-Aufstand und Pestepidemie zu einem Katastrophendrama in drei Akten ausgemalt. Abgesehen davon, dass Kunst nicht allein in der Diskursivität aufgeht, sind Bilder und Denkmäler mehr als illustrierende Supplemente der Diskurse, nämlich selbst narrative Agenten: sie schreiben mit und schreiben um. In diesem Sinne ist die Epistemologie der Katastrophe in hohem Maße auch immer eine Geschichte ihrer Bilder.
Es ist eine ältere (strukturalistische) Einsicht, dass sich die Netze von Zeichen deutend über die Wirklichkeit legen und der Raum der Geschichte den unablässigen Überschreibungen und Umwertungen der Zeichen unterliegt. Die vorliegenden Beiträge bündeln sich entlang dieser Vorstellung und ergeben in ihrer Summe einen thematisch sehr kompakten Sammelband, was zumal in der aktuellen Forschungslandschaft Seltenheitswert beansprucht. Der Kunstgeschichte ist er ein kleines Handbuch voller Wissen, Gedanken und Impulse die Stadtsemiose Neapels betreffend - deren Dechiffrierungsarbeit, glaubt man Italo Calvino, prinzipiell unabschließbar ist.
Anmerkungen:
[1] Hierzu eingehender Silvana D'Alessio: Contagi. La rivolta napoletana del 1647-48. Linguaggio e potere politico, Florenz 2003 und Sabine Kalff: Politische Medizin der Frühen Neuzeit. Die Figur des Arztes in Italien und England im frühen 17. Jahrhundert, Berlin / Boston 2014, bes. 174-192.
[2] Jüngst hierzu die Dissertation von Vera Fionie Koppenleitner: Katastrophenbilder. Der Vesuvausbruch 1631 in den Bildkünsten der Frühen Neuzeit, München 2018.
[3] Dietrich Erben: Bildnis, Denkmal und Historie beim Masaniello-Aufstand 1647-1648 in Neapel, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 62 (1999), 231-263 und Katharina Siebenmorgen: Masaniello und die Rebellion zu Neapel 1647-1648. Zur Genese eines Medienereignisses, in: Caravaggios Erben. Barock in Neapel, hgg. von Peter Forster / Elisabeth Oy-Marra / Heiko Damm, Ausstellungskatalog Wiesbaden, München 2016, 31-47.
Salvatore Pisani