Rezension über:

Tom Geue: Author Unknown. The Power of Anonymity in Ancient Rome, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2019, XII + 361 S., ISBN 978-0-674-98820-0, EUR 40,50
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Rezension von:
Lisa Cordes
Institut für Klassische Philologie, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Lisa Cordes: Rezension von: Tom Geue: Author Unknown. The Power of Anonymity in Ancient Rome, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 2 [15.02.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/02/33560.html


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Tom Geue: Author Unknown

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Die Versuche, die Identität der sich hinter dem Namen Elena Ferrante verbergenden Schriftstellerin zu enthüllen, bezeugen die Faszination mit dem empirischen Autor/der Autorin, die, allen Nachrufen zum Trotz, ungebrochen scheint. In den letzten Jahren hat sich die klassisch-philologische Forschung verstärkt dem Thema Autorschaft gewidmet, mit Fokus etwa auf die "Stimme des Autors" und auf Pseudepigraphie. [1]

Mit seinem Buch positioniert sich Tom Geue gewissermaßen quer zu diesem Trend. Er widmet sich Texten, die sich nicht einem klar identifizierbaren Autor und historischen Kontext zuordnen lassen. Sein erklärtes Ziel ist es, dem autor- und kontextzentrierten Denken, das sich, wenn auch geläutert durch die (post-)strukturalistischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, noch immer in der vom Greenblatt'schen New Historicism beeinflussten Literaturwissenschaft manifestiere, eine Perspektive entgegenzusetzen, die die Anonymität der Werke nicht als Defizit sieht, sondern sie als konstitutiven Bestandteil der Werke ernst nimmt und nach ihrem spezifischen Potential fragt. Es ist für Geue zweitrangig, ob die Texte - im Zentrum steht lateinische Literatur der Kaiserzeit - anonym publiziert wurden und ihren Entstehungskontext "aktiv verschleiern" (er spricht von "ideological anonymity", 5) oder ob die Anonymität der Überlieferung geschuldet ist. Er plädiert jedoch mehrfach, und oft überzeugend, für ersteres.

Der Blick auf die Autor- und Kontextlosigkeit der untersuchten Literatur ("external anonymity") ist nur ein Aspekt der Studie. Ebenso wichtig ist die Namenlosigkeit von Figuren innerhalb der Werke ("internal anonymity"). So erklärt sich, dass der erste Teil ("The Power of the Name") mit einem unerwarteten Text beginnt. Anhand von Augustus' Res Gestae zeigt Geue, dass die Macht von Anonymität u. a. auf deren universalisierender Wirkung beruht (Kap. 1). Indem Augustus die Ubiquität seines auktorialen Fußabdrucks mit der Unterdrückung anderer Namen und dem gelegentlichen Verzicht auf die Nennung des eigenen Namens kombiniert, inszeniert er seine allumfassende Urheberschaft. Die Rezeption dieser 'Politik der Autorschaft' in Suetons Kaiserviten zeigt das subversive Potential anonymer Äußerungen, etwa in Form von Klatsch, auf.

Kap. 2 und 3 zu Ovids Ibis und der ps.-senecanischen Praetexta Octavia widmen sich weiteren Erscheinungsformen der machtpolitischen Dimension von (An-)onymität. Im Ibis lässt sich eine Strategie der "sozialen Ermordung" (73) durch das Löschen und die Umschreibung von Namen beobachten. In der Octavia werden die weiblichen Figuren, v.a. die namentlich kaum genannte Titelheldin, über Verwandtschaftsbeziehungen definiert, in deren flexibler Verwendung sich die Dynamik des Dramas vollzieht. An der dramatischen abolitio nominis Neros zeigt Geue überzeugend, wie interne und externe Anonymität zusammenhängen: Die anonyme Publikation des Dramas verleiht der im Text vollzogenen Damnatio die Autorität kollektiven Empfindens.

Der Blick auf externe Anonymität und deren universalisierenden Effekt prägt die Kapitel 4-6 (Part II: "The Universal No-Name"), die sich in sorgfältigem close-reading mit Phaedrus' Fabeln, der Laus Pisonis und den Eklogen des Calpurnius Siculus befassen. Geue argumentiert, dass die Wirkung dieser Texte darauf basiert, dass über ihre Urheber (fast) nichts bekannt ist. Im Fall von Phaedrus ("one of antiquity's great performances of authorial invention", 141) erweisen sich die scheinbar biographischen Referenzen in den Prologen als kunstvoll zusammengesetzte textuelle vita eines nicht greifbaren Ich-Sprechers. Die Laus Pisonis und Calpurnius loten nach Geue das kreative Potential völliger Kontextlosigkeit aus: Zeitlos komponiert fügen sie sich in jede Zeit und werden dadurch "future-proof" (197). Während die generische Panegyrik der Laus Pisonis die Spezifik des Moments in der Tat zu transzendieren scheint (145), ist die These für die Eklogen weniger überzeugend. Denn aus der Tatsache, dass deren Datierung und die Identifizierung des gepriesenen Kaisers umstritten sind, lässt sich noch keine gänzliche Zeitlosigkeit ableiten. Wenn Geue über Ekloge 1 schreibt, "this prophecy is run-of-the-mill, early accession hail-a-golden-age-stuff" (187, ein Beispiel seines kolloquialen Stils) und schließt, dass sich das Lob somit auf jeden Kaiser beziehen könne, schenkt er den Spezifika imperialer Herrscherdarstellung zu wenig Beachtung. [2]

Teil 3 ("Whence and When") betrachtet, jeweils im Paar, vier Texte: Senecas Apocolocyntosis und Petrons Satyrica thematisieren die Verlässlichkeit von Quelle, frame und Kontext (Kap. 7: whence), Tacitus' Dialogus und [Longins] Peri hypsous inszenieren ihre eigene historische Transzendenz (Kap. 8: when). Interne und externe Anonymität werden auch hier miteinander verknüpft. Die Apocolocyntosis wirft durch die unklare Sprecherinstanz, die autorlosen Sprichwörter und die Figur des Claudius, der sich jeder Zuordnung entzieht, die Frage nach dem Woher auf. Eine anonyme Publikation, die Geue in Analogie zur Octavia für denkbar hält, stützt das Bild einer "kollektiven Rache" an Claudius. [3] Die zentrale Rolle irreführender tituli in den Satyrica spiegelt sich in deren unsicherem Titel wider und hinterfragt den Wert paratextueller Zuschreibung. Dem Zurücktreten des Autors im Dialogus - in augenzwinkernder praeteritio stößt Geue die Diskussion um die taciteische Autorschaft wieder an (236, 254) - entspricht, dass sich der Text gegen eine klare Kontextualisierung sträubt. Die anonyme Überlieferung des Traktats Peri hypsous, die Geue ebenfalls für "ideologisch" hält, stützt die literarische Agenda eines "transzendenten Klassizismus" (255).

Im Fazit stellt Geue noch einmal das (hermeneutische) Potential und die Macht des Unbekannten heraus und plädiert dafür, bei der Untersuchung von Texten, deren Autorschaft und Datierung unsicher sind, die Praxis historischer Kontextualisierung zu hinterfragen. Seine aufschlussreichen Textanalysen, die, auch wenn sie nicht alle gleichermaßen überzeugen, durchweg neue Perspektiven aufzeigen und zu mutigen Thesen Anlass geben, unterstützen dieses Plädoyer bestmöglich.


Anmerkungen:

[1] Anna Marmodoro / Jonathan Hill (eds.): The Author's Voice in Classical and Late Antiquity, Oxford 2013; Irene Peirano: The Rhetoric of the Roman Fake. Latin Pseudepigrapha in Context, Cambridge 2012; Antonio Guzmán / Javier Martínez (eds.): Animo Decipiendi? Rethinking fakes and authorship in Classical, Late Antique, & Early Christian Works, Groningen 2018.

[2] Dass gerade der Topos der aurea aetas nach Neros Sturz nur zurückhaltend genutzt wurde, zeigt Ruurd Nauta: Flauius ultimus, caluus Nero. Betrachtungen zu Herrscherbild und Panegyrik unter Domitian, in: Tradition und Erneuerung. Mediale Strategien in der Zeit der Flavier, hgg. von Norbert Kramer / Christiane Reitz, Berlin 2010, 239-271.

[3] Die Beobachtungen zu Claudius' "proverbialization" (220) belegen das innovative Potential der Studie. Die Diskussion um externe Anonymität der Apocolocyntosis hätte, Geues Absage zum Trotz, von einer stärkeren Auseinandersetzung mit kontextorientierten Ansätzen zur mündlichen Publikation (was bedeutet die Praxis der Rezitation für Anonymität?) und Rezipientenschaft (kann man hier eine 'partielle Anonymität' in Betracht ziehen?) profitiert. Trotz der anderen Methodik kompatibel scheint etwa der Vorschlag von Christian Reitzenstein-Ronning, die Unklarheiten der Apocolocyntosis als Bedeutungsträger zu sehen (certa clara affero? Senecas Apocolocyntosis und die Zeichensprache des Principats, Chiron 47 (2017), 213-242).

Lisa Cordes