Jonathan Reinert: Passionspredigt im 16. Jahrhundert. Das Leiden und Sterben Jesu Christi in den Postillen Martin Luthers, der Wittenberger Tradition und altgläubiger Prediger (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 119), Tübingen: Mohr Siebeck 2020, XIV + 420 S., ISBN 978-3-1615-9660-5, EUR 99,00
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Bis heute verbinden Menschen mit der Passion Christi die Kreuzigungsszene aus Matthias Grünewalds Isenheimer Altar (1516) und Paul Gerhardts Lied O Haupt voll Blut und Wunden (1656). Was für eine Theologie entwickelte sich zwischen diesen Polen der Passionsfrömmigkeit, beginnend mit der Reformation bis zur Ausbildung der Konfessionen? Jonathan Reinert befasst sich mit Passionspredigten aus volkssprachlichen Postillen der Wittenberger und altgläubigen Tradition, die zwischen 1519 (Luther) und 1580 (Konkordienbuch) entstanden sind. Er will mit Hilfe der Predigten den "gar nicht so geradlinigen Weg von der reformatorischen Bewegung zu einander gegenüberstehenden Konfessionskulturen" (12) exemplarisch nachzeichnen.
Der erste und umfangreichste Teil des Buches widmet sich den Passionspredigten aus Luthers deutschen Postillen (Kap. II). Der Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi, 1519 erstmals als Flugschrift und 1525 innerhalb der Fastenpostille publiziert, erweist sich als wichtige Grundlage für andere Passionspredigten der Reformationszeit. Reinert zeigt die Verwurzelung Luthers in der theologischen Tradition und zugleich dessen Kritik an bestimmten Frömmigkeitsformen sowie Luthers neue Interpretationen des Passionsgeschehens. Luther kritisierte vor allem die compassio, das Mitleiden der Gläubigen mit Christus, das seiner Ansicht nach die eigentliche Bedeutung der Passion in den Hintergrund treten ließ: Das Erkennen der eigenen Sünde, die Ursache für das Leiden Christi, sollte nach Luther das wichtigste Moment der Passionsbetrachtung sein. Für Luther war die Passion Christi einerseits sacramentum, andererseits exemplum: Ihr sakramentaler Charakter war das Erschrecken über die eigene Sünde und die Erkenntnis derselben, woraus Glaube und Gotteserkenntnis resultierten. Erst infolgedessen erhielt die Passion auch exemplarischen Charakter für das Menschenleben.
Passionspredigten aus den Postillen Johannes Ecks, Friedrich Nauseas und Georg Witzels waren erste altgläubige Resonanzen auf Luthers Passionstheologie (Kap. III). Sie griffen Impulse Luthers auf, entkräfteten aber vor allem Luthers Kritiken und betonten die Rechtmäßigkeit der compassio. Das Erschrecken über die eigene Sünde wurde als Teil der compassio verstanden. Auch Theologen aus dem Wittenberger Umfeld (Johann Spangenberg, Philipp Melanchthon, Veit Dietrich) rezipierten zwischen 1540 und 1550 Luthers Passionspredigten und griffen, je nach Kontext in unterschiedlichen Formen, Impulse Luthers auf (Kap. IV). Die Idee von der Passion als Sakrament und Exempel wurde weitergedacht und durch einen ethisch-pädagogischen Aspekt ergänzt: Die Passion sollte zu einer Besserung des eigenen Lebens führen. Kritik an Altgläubigen wurde in den Predigten weiterhin geäußert.
Ein weiteres Kapitel widmet sich den altgläubigen Theologen Johann Wild, Jakob Schöpper, Michael Helding und Johann Craendonch aus dem Mainzer Reformkreis 1550-1570 (Kap. V). In Wilds Predigten fanden sich wörtliche Übernahmen aus Luthers Passionssermon. Der Dortmunder Kirchenreformer Schöpper rekurrierte auf Melanchthon, während bei Helding zwar keine direkte Rezeption, aber zumindest Gedankengut Luthers festzustellen ist. Craendonch besorgte eine Korrektur der Spangenbergschen Postille, die Polemiken gegen Altgläubige tilgte, die Kritik an der compassio-Frömmigkeit aber beibehielt. Die Postillen aus altgläubigen Reformkreisen mit ihrer Nähe zu Predigten aus dem Umfeld Luthers belegen, dass eine konfessionelle Profilierung im Blick auf die Passionstheologie im untersuchten Zeitraum nicht klar erkennbar ist.
Im Kontext der Wittenberger Tradition (1560-1580; Johannes Wigand, Simon Musäus, Christoph Fischer, Johann Habermann) lässt sich eine inhaltliche und formale Vielfalt innerhalb der Passionspredigten aufweisen (Kap. VI). Wie Luther warnten die Autoren vor einer "falschen" Passionsbetrachtung. Die Erkenntnis der eigenen Sünde und der Liebe Christi (bei Luther: sacramentum und exemplum) waren zentrale Momente ihrer Passionstheologie. Eine wichtige Rolle spielte der jeweils unterschiedliche Umgang mit den Streitigkeiten um Luthers Erbe. Die Kritik an der compassio-Frömmigkeit geriet, im Vergleich zu 1519, in den Hintergrund.
Im Anschluss an die Predigtanalysen erörtert Reinert seine Ergebnisse im Zusammenhang mit der Konfessionalisierungsthese und der historischen Predigtforschung (Kap. VII). Im Blick auf das untersuchte Quellenmaterial kann eine passionstheologische Traditionsbildung im Wittenberger Kontext, ausgehend von Martin Luther, festgestellt werden. Eine vergleichbare altgläubige Traditionsbildung, die auf eine einzige impulsgebende Person zurückging, gab es nicht. Vielmehr nahmen altgläubige Passionspredigten (zumindest aus den Reformkreisen) reformatorische Impulse auf. Dieser Befund zeigt die Fluidität und die noch nicht immer klare Profilierung der sich gerade erst herausbildenden Konfessionen. Auch die Pluralität innerhalb einzelner Denominationen sowie die Modifizierung von Inhalten, gerade im Kontext der innerlutherischen Streitigkeiten nach Luthers Tod, wird deutlich. Reinert kann mit diesen Ergebnissen an die Forschungen zu "Interkonfessionalität", "Transkonfessionalität" und "konfessioneller Ambiguität" [1] anknüpfen und diese als fruchtbar für die Predigtforschung des 16. und 17. Jahrhunderts ausweisen.
Die Studie bietet eine sorgfältige historische Einordnung und Analyse der Quellen und ist, trotz häufiger durchnummerierter Thesenbildung und teilweise etwas zu kleinschrittiger Inhaltsangaben, gut lesbar. Der gewählte Zeitrahmen sowie der Beginn mit Luthers Passionssermon sind plausibel, zeugen aber auch, trotz des sehr zu lobenden bikonfessionellen Zugangs, von einer "lutherischen" Perspektive der Geschichtsschreibung. Zu Recht weist Reinert darauf hin, dass in Zukunft Predigten aus dem Reformiertentum und aus spiritualistischen Kontexten ebenfalls zu berücksichtigen sind, um weitere Wechselbeziehungen und Abgrenzungsprozesse zwischen Denominationen bestimmen zu können. Sicher wäre auch der Blick auf internationale Kontexte lohnend: Lassen sich ähnliche Dynamiken der Konfessionalisierung in anderen Ländern feststellen? Erste Anhaltspunkte dazu könnte z.B. die internationale Verbreitung und Zensur der Schriften Johann Wilds bieten. [2] Jonathan Reinerts Studie zeigt anhand eines begrenzten Quellenmaterials das große Potenzial, das die Verbindung von historischer Predigtforschung und die Diskussionen um die Konfessionalisierungsthese hat. Sie sollte in Zukunft anhand anderer Fallbeispiele weiter betrieben werden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Kaspar von Greyerz / Manfred Jakubowski-Thiessen / Thomas Kaufmann / Hartmut Lehmann (Hgg.): Interkonfessionalität - Transkonfessionalität - binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Heidelberg 2003 (SVRG 201); Andreas Pietsch / Barbara Stollberg-Rillinger (Hgg.): Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 2013 (SVRG 214).
[2] Vgl. Markus Müller: Der Mainzer Domprediger Johann Wild OFM (1495-1554) in der transnationalen Dynamik entstehender Konfessionen, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 70 (2018), 167-188.
Andrea Hofmann